hervor, band sie sich unter die Füße, griff zu seiner Lanze und eilte fort.
Odysseus gibt sich dem Sohne zu erkennen.
Pallas Athene, die Göttin, hatte nur den Augen¬ blick abgewartet, wo Eumäus die Hütte verlassen haben würde. Da erschien sie unter der Thüre in Gestalt einer schönen Jungfrau, doch nicht dem Telemach sichtbar, sondern nur seinem Vater und den Hunden; diese aber bellten nicht, sondern verkrochen sich winselnd nach der andern Seite des Hofes. Dem Odysseus winkte die Göttin; er verstand ihr Gebot und verließ auf der Stelle die Hütte. An der Hofmauer fand er seine Beschützerin stehen, die zu ihm sprach: "Jetzt, Odysseus, brauchst du dich nicht länger vor dem Sohne zu verbergen. Beide mit einander möget ihr zum Verderben der Freier in die Stadt eingehen. Ich selbst werde euch auch nicht lange fehlen; denn ich brenne vor Begierde, diese Frevler zu bekämpfen!" So sprach die Göttin und berührte den Bettler mit ihrem goldenen Stab. Da war ein Wunder zu sehen. Mantel und Leibrock wie früher umgab des Helden sich verjüngende Gestalt wieder; sein Wuchs strebte empor, sein Antlitz bräunte sich, die Wangen wurden voller, die Haare dicht, und um das Kinn sproßte wieder das gekräuselte schwarze Barthaar. Nach¬ dem sie solches vollbracht hatte, verschwand Athene.
Als Odysseus wieder in die Hütte eintrat, sah ihn der Sohn mit Staunen an, glaubte einen Gott zu
hervor, band ſie ſich unter die Füße, griff zu ſeiner Lanze und eilte fort.
Odyſſeus gibt ſich dem Sohne zu erkennen.
Pallas Athene, die Göttin, hatte nur den Augen¬ blick abgewartet, wo Eumäus die Hütte verlaſſen haben würde. Da erſchien ſie unter der Thüre in Geſtalt einer ſchönen Jungfrau, doch nicht dem Telemach ſichtbar, ſondern nur ſeinem Vater und den Hunden; dieſe aber bellten nicht, ſondern verkrochen ſich winſelnd nach der andern Seite des Hofes. Dem Odyſſeus winkte die Göttin; er verſtand ihr Gebot und verließ auf der Stelle die Hütte. An der Hofmauer fand er ſeine Beſchützerin ſtehen, die zu ihm ſprach: „Jetzt, Odyſſeus, brauchſt du dich nicht länger vor dem Sohne zu verbergen. Beide mit einander möget ihr zum Verderben der Freier in die Stadt eingehen. Ich ſelbſt werde euch auch nicht lange fehlen; denn ich brenne vor Begierde, dieſe Frevler zu bekämpfen!“ So ſprach die Göttin und berührte den Bettler mit ihrem goldenen Stab. Da war ein Wunder zu ſehen. Mantel und Leibrock wie früher umgab des Helden ſich verjüngende Geſtalt wieder; ſein Wuchs ſtrebte empor, ſein Antlitz bräunte ſich, die Wangen wurden voller, die Haare dicht, und um das Kinn ſproßte wieder das gekräuſelte ſchwarze Barthaar. Nach¬ dem ſie ſolches vollbracht hatte, verſchwand Athene.
Als Odyſſeus wieder in die Hütte eintrat, ſah ihn der Sohn mit Staunen an, glaubte einen Gott zu
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hervor, band ſie ſich unter die Füße, griff zu ſeiner Lanze
und eilte fort.
Odyſſeus gibt ſich dem Sohne zu erkennen.
Pallas Athene, die Göttin, hatte nur den Augen¬
blick abgewartet, wo Eumäus die Hütte verlaſſen haben
würde. Da erſchien ſie unter der Thüre in Geſtalt einer
ſchönen Jungfrau, doch nicht dem Telemach ſichtbar,
ſondern nur ſeinem Vater und den Hunden; dieſe aber
bellten nicht, ſondern verkrochen ſich winſelnd nach der
andern Seite des Hofes. Dem Odyſſeus winkte die
Göttin; er verſtand ihr Gebot und verließ auf der Stelle
die Hütte. An der Hofmauer fand er ſeine Beſchützerin
ſtehen, die zu ihm ſprach: „Jetzt, Odyſſeus, brauchſt
du dich nicht länger vor dem Sohne zu verbergen. Beide
mit einander möget ihr zum Verderben der Freier in die
Stadt eingehen. Ich ſelbſt werde euch auch nicht lange
fehlen; denn ich brenne vor Begierde, dieſe Frevler zu
bekämpfen!“ So ſprach die Göttin und berührte den
Bettler mit ihrem goldenen Stab. Da war ein Wunder
zu ſehen. Mantel und Leibrock wie früher umgab des
Helden ſich verjüngende Geſtalt wieder; ſein Wuchs
ſtrebte empor, ſein Antlitz bräunte ſich, die Wangen
wurden voller, die Haare dicht, und um das Kinn
ſproßte wieder das gekräuſelte ſchwarze Barthaar. Nach¬
dem ſie ſolches vollbracht hatte, verſchwand Athene.
Als Odyſſeus wieder in die Hütte eintrat, ſah ihn
der Sohn mit Staunen an, glaubte einen Gott zu
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/227>, abgerufen am 24.11.2024.
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