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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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erblicken, und mit abgewandten Augen sprach er: "Fremd¬
ling, du siehst ganz anders aus als vorhin; andre Kleider
hast du an; deine ganze Gestalt ist verwandelt, du bist
fürwahr einer der Himmlischen! laß dir opfern und
schone unser." -- "Nein, ich bin kein Gott," rief Odys¬
seus, "erkenne mich doch, Kind, ich bin ja dein Vater,
um den du dich so viel gegrämt hast!" Die so lange
gewaltsam gehemmten Thränen stürzten ihm bei diesen
Worten aus den Augen; er eilte auf den Sohn zu und
umfing ihn unter Küssen. Aber Telemach konnte es noch
immer nicht glauben. "Nein, nein," rief er, "du bist
nicht mein Vater Odysseus, ein böser Dämon täuscht
mich, damit ich nur noch tiefer ins Leid versinke. Wie
vermöchte sich auch ein Mensch aus eigener Kraft so zu
verwandeln!" "Staune doch den heimkehrenden Vater
nicht so gränzenlos an, lieber Sohn," erwiederte Odys¬
seus, "ich bin es, der nach zwanzig Jahren in die Hei¬
math zurückkommt, und kein Anderer. Das Wunder ist
ein Werk der Göttin Athene, sie hat mich so umgeschaf¬
fen, daß ich bald als ein Bettler einhergehe, bald als
ein Jüngling; denn den Göttern wird es leicht, einen
Sterblichen bald zu erniedrigen, bald zu erhöhen."

So sprach Odysseus und setzte sich. Jetzt erst wagte
es der Jüngling, unter heißen Thränen seinen Vater zu
umschlingen; in beiden regte sich der lange Gram, sie
fingen an laut zu weinen, und ihre Klage tönte so herz¬
zerreissend, wie der Ruf der Vögel, denen man ihre
Jungen geraubt hat, ehe sie flügg geworden sind. Als
sie sich genug ausgeweint, fragte endlich Telemach den
Vater, auf welchem Wege er in die Heimath gekommen
sey, und nachdem ihm der Vater Bescheid gegeben, sagte

erblicken, und mit abgewandten Augen ſprach er: „Fremd¬
ling, du ſiehſt ganz anders aus als vorhin; andre Kleider
haſt du an; deine ganze Geſtalt iſt verwandelt, du biſt
fürwahr einer der Himmliſchen! laß dir opfern und
ſchone unſer.“ — „Nein, ich bin kein Gott,“ rief Odyſ¬
ſeus, „erkenne mich doch, Kind, ich bin ja dein Vater,
um den du dich ſo viel gegrämt haſt!“ Die ſo lange
gewaltſam gehemmten Thränen ſtürzten ihm bei dieſen
Worten aus den Augen; er eilte auf den Sohn zu und
umfing ihn unter Küſſen. Aber Telemach konnte es noch
immer nicht glauben. „Nein, nein,“ rief er, „du biſt
nicht mein Vater Odyſſeus, ein böſer Dämon täuſcht
mich, damit ich nur noch tiefer ins Leid verſinke. Wie
vermöchte ſich auch ein Menſch aus eigener Kraft ſo zu
verwandeln!“ „Staune doch den heimkehrenden Vater
nicht ſo gränzenlos an, lieber Sohn,“ erwiederte Odyſ¬
ſeus, „ich bin es, der nach zwanzig Jahren in die Hei¬
math zurückkommt, und kein Anderer. Das Wunder iſt
ein Werk der Göttin Athene, ſie hat mich ſo umgeſchaf¬
fen, daß ich bald als ein Bettler einhergehe, bald als
ein Jüngling; denn den Göttern wird es leicht, einen
Sterblichen bald zu erniedrigen, bald zu erhöhen.“

So ſprach Odyſſeus und ſetzte ſich. Jetzt erſt wagte
es der Jüngling, unter heißen Thränen ſeinen Vater zu
umſchlingen; in beiden regte ſich der lange Gram, ſie
fingen an laut zu weinen, und ihre Klage tönte ſo herz¬
zerreiſſend, wie der Ruf der Vögel, denen man ihre
Jungen geraubt hat, ehe ſie flügg geworden ſind. Als
ſie ſich genug ausgeweint, fragte endlich Telemach den
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[206/0228] erblicken, und mit abgewandten Augen ſprach er: „Fremd¬ ling, du ſiehſt ganz anders aus als vorhin; andre Kleider haſt du an; deine ganze Geſtalt iſt verwandelt, du biſt fürwahr einer der Himmliſchen! laß dir opfern und ſchone unſer.“ — „Nein, ich bin kein Gott,“ rief Odyſ¬ ſeus, „erkenne mich doch, Kind, ich bin ja dein Vater, um den du dich ſo viel gegrämt haſt!“ Die ſo lange gewaltſam gehemmten Thränen ſtürzten ihm bei dieſen Worten aus den Augen; er eilte auf den Sohn zu und umfing ihn unter Küſſen. Aber Telemach konnte es noch immer nicht glauben. „Nein, nein,“ rief er, „du biſt nicht mein Vater Odyſſeus, ein böſer Dämon täuſcht mich, damit ich nur noch tiefer ins Leid verſinke. Wie vermöchte ſich auch ein Menſch aus eigener Kraft ſo zu verwandeln!“ „Staune doch den heimkehrenden Vater nicht ſo gränzenlos an, lieber Sohn,“ erwiederte Odyſ¬ ſeus, „ich bin es, der nach zwanzig Jahren in die Hei¬ math zurückkommt, und kein Anderer. Das Wunder iſt ein Werk der Göttin Athene, ſie hat mich ſo umgeſchaf¬ fen, daß ich bald als ein Bettler einhergehe, bald als ein Jüngling; denn den Göttern wird es leicht, einen Sterblichen bald zu erniedrigen, bald zu erhöhen.“ So ſprach Odyſſeus und ſetzte ſich. Jetzt erſt wagte es der Jüngling, unter heißen Thränen ſeinen Vater zu umſchlingen; in beiden regte ſich der lange Gram, ſie fingen an laut zu weinen, und ihre Klage tönte ſo herz¬ zerreiſſend, wie der Ruf der Vögel, denen man ihre Jungen geraubt hat, ehe ſie flügg geworden ſind. Als ſie ſich genug ausgeweint, fragte endlich Telemach den Vater, auf welchem Wege er in die Heimath gekommen ſey, und nachdem ihm der Vater Beſcheid gegeben, ſagte

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/228>, abgerufen am 24.11.2024.