ich selbst begehre nicht länger hier zu bleiben; ein Bettler bringt sich in der Stadt immer besser fort, als auf dem Lande. Geh' du denn immerhin, und wenn ich mich in meinen Lumpen noch ein wenig am Feuer gewärmt habe und die Luft milder geworden ist -- denn die Stadt ist, wie man mir sagt, weit von hier entfernt, -- so mag dein Diener da mich begleiten."
Nun eilte Telemach in die Stadt. Es war noch ziemlich früh am Tage, als er vor seinem Palaste an¬ kam, und die Freier hatten sich noch nicht eingefunden. Er lehnte seine Lanze an eine Säule des Einganges und schritt über die steinerne Schwelle in den Saal. Hier war die Schaffnerin Euriklea damit beschäftigt, die statt¬ lichen Thronsessel mit schönen Vließen zu bedecken. Als sie den Jüngling ansichtig ward, eilte sie mit Freuden¬ thränen auf ihn zu und hieß ihn willkommen; auch die andern Mägde umringten ihn und küßten ihm Hände und Schultern. Jetzt trat auch seine Mutter Penelope aus der Kammer, schlank wie Artemis und schön wie Aphrodite. Weinend schloß sie ihren Sohn in die Arme und küßte ihm Antlitz und Augen. "Kommst du, kommst du, mein süßes Leben," rief sie schluchzend, "nimmer¬ mehr hoffte ich, dich wiederzusehen, seit du heimlich und ohne meinen Willen nach Pylos geschifft warst, um Er¬ kundigung vom lieben Vater einzuziehen! Nun sage mir doch, was bringst du für Nachrichten, liebes Kind?" "Ach Mutter," antwortete Telemach, der seine wahren Gefühle mit Gewalt in den Busen zurückdrängen mußte, "rege mir, der ich selbst eben erst dem Verderben ent¬ flohen bin, den Gram um den Vater nicht wieder auf. Bade du dich jetzt, lege reine Gewande an, und gelobe
ich ſelbſt begehre nicht länger hier zu bleiben; ein Bettler bringt ſich in der Stadt immer beſſer fort, als auf dem Lande. Geh' du denn immerhin, und wenn ich mich in meinen Lumpen noch ein wenig am Feuer gewärmt habe und die Luft milder geworden iſt — denn die Stadt iſt, wie man mir ſagt, weit von hier entfernt, — ſo mag dein Diener da mich begleiten.“
Nun eilte Telemach in die Stadt. Es war noch ziemlich früh am Tage, als er vor ſeinem Palaſte an¬ kam, und die Freier hatten ſich noch nicht eingefunden. Er lehnte ſeine Lanze an eine Säule des Einganges und ſchritt über die ſteinerne Schwelle in den Saal. Hier war die Schaffnerin Euriklea damit beſchäftigt, die ſtatt¬ lichen Thronſeſſel mit ſchönen Vließen zu bedecken. Als ſie den Jüngling anſichtig ward, eilte ſie mit Freuden¬ thränen auf ihn zu und hieß ihn willkommen; auch die andern Mägde umringten ihn und küßten ihm Hände und Schultern. Jetzt trat auch ſeine Mutter Penelope aus der Kammer, ſchlank wie Artemis und ſchön wie Aphrodite. Weinend ſchloß ſie ihren Sohn in die Arme und küßte ihm Antlitz und Augen. „Kommſt du, kommſt du, mein ſüßes Leben,“ rief ſie ſchluchzend, „nimmer¬ mehr hoffte ich, dich wiederzuſehen, ſeit du heimlich und ohne meinen Willen nach Pylos geſchifft warſt, um Er¬ kundigung vom lieben Vater einzuziehen! Nun ſage mir doch, was bringſt du für Nachrichten, liebes Kind?“ „Ach Mutter,“ antwortete Telemach, der ſeine wahren Gefühle mit Gewalt in den Buſen zurückdrängen mußte, „rege mir, der ich ſelbſt eben erſt dem Verderben ent¬ flohen bin, den Gram um den Vater nicht wieder auf. Bade du dich jetzt, lege reine Gewande an, und gelobe
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0236"n="214"/>
ich ſelbſt begehre nicht länger hier zu bleiben; ein Bettler<lb/>
bringt ſich in der Stadt immer beſſer fort, als auf dem<lb/>
Lande. Geh' du denn immerhin, und wenn ich mich<lb/>
in meinen Lumpen noch ein wenig am Feuer gewärmt<lb/>
habe und die Luft milder geworden iſt — denn die Stadt<lb/>
iſt, wie man mir ſagt, weit von hier entfernt, —ſo<lb/>
mag dein Diener da mich begleiten.“</p><lb/><p>Nun eilte Telemach in die Stadt. Es war noch<lb/>
ziemlich früh am Tage, als er vor ſeinem Palaſte an¬<lb/>
kam, und die Freier hatten ſich noch nicht eingefunden.<lb/>
Er lehnte ſeine Lanze an eine Säule des Einganges und<lb/>ſchritt über die ſteinerne Schwelle in den Saal. Hier<lb/>
war die Schaffnerin Euriklea damit beſchäftigt, die ſtatt¬<lb/>
lichen Thronſeſſel mit ſchönen Vließen zu bedecken. Als<lb/>ſie den Jüngling anſichtig ward, eilte ſie mit Freuden¬<lb/>
thränen auf ihn zu und hieß ihn willkommen; auch die<lb/>
andern Mägde umringten ihn und küßten ihm Hände<lb/>
und Schultern. Jetzt trat auch ſeine Mutter Penelope<lb/>
aus der Kammer, ſchlank wie Artemis und ſchön wie<lb/>
Aphrodite. Weinend ſchloß ſie ihren Sohn in die Arme<lb/>
und küßte ihm Antlitz und Augen. „Kommſt du, kommſt<lb/>
du, mein ſüßes Leben,“ rief ſie ſchluchzend, „nimmer¬<lb/>
mehr hoffte ich, dich wiederzuſehen, ſeit du heimlich und<lb/>
ohne meinen Willen nach Pylos geſchifft warſt, um Er¬<lb/>
kundigung vom lieben Vater einzuziehen! Nun ſage mir<lb/>
doch, was bringſt du für Nachrichten, liebes Kind?“<lb/>„Ach Mutter,“ antwortete Telemach, der ſeine wahren<lb/>
Gefühle mit Gewalt in den Buſen zurückdrängen mußte,<lb/>„rege mir, der ich ſelbſt eben erſt dem Verderben ent¬<lb/>
flohen bin, den Gram um den Vater nicht wieder auf.<lb/>
Bade du dich jetzt, lege reine Gewande an, und gelobe<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[214/0236]
ich ſelbſt begehre nicht länger hier zu bleiben; ein Bettler
bringt ſich in der Stadt immer beſſer fort, als auf dem
Lande. Geh' du denn immerhin, und wenn ich mich
in meinen Lumpen noch ein wenig am Feuer gewärmt
habe und die Luft milder geworden iſt — denn die Stadt
iſt, wie man mir ſagt, weit von hier entfernt, — ſo
mag dein Diener da mich begleiten.“
Nun eilte Telemach in die Stadt. Es war noch
ziemlich früh am Tage, als er vor ſeinem Palaſte an¬
kam, und die Freier hatten ſich noch nicht eingefunden.
Er lehnte ſeine Lanze an eine Säule des Einganges und
ſchritt über die ſteinerne Schwelle in den Saal. Hier
war die Schaffnerin Euriklea damit beſchäftigt, die ſtatt¬
lichen Thronſeſſel mit ſchönen Vließen zu bedecken. Als
ſie den Jüngling anſichtig ward, eilte ſie mit Freuden¬
thränen auf ihn zu und hieß ihn willkommen; auch die
andern Mägde umringten ihn und küßten ihm Hände
und Schultern. Jetzt trat auch ſeine Mutter Penelope
aus der Kammer, ſchlank wie Artemis und ſchön wie
Aphrodite. Weinend ſchloß ſie ihren Sohn in die Arme
und küßte ihm Antlitz und Augen. „Kommſt du, kommſt
du, mein ſüßes Leben,“ rief ſie ſchluchzend, „nimmer¬
mehr hoffte ich, dich wiederzuſehen, ſeit du heimlich und
ohne meinen Willen nach Pylos geſchifft warſt, um Er¬
kundigung vom lieben Vater einzuziehen! Nun ſage mir
doch, was bringſt du für Nachrichten, liebes Kind?“
„Ach Mutter,“ antwortete Telemach, der ſeine wahren
Gefühle mit Gewalt in den Buſen zurückdrängen mußte,
„rege mir, der ich ſelbſt eben erſt dem Verderben ent¬
flohen bin, den Gram um den Vater nicht wieder auf.
Bade du dich jetzt, lege reine Gewande an, und gelobe
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/236>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.