Jetzt legte es Pallas Athene der Königin in die Seele, vor den Freiern zu erscheinen, einem Jeden von ihnen sein Herz recht mit Sehnsucht zu füllen, und sich durch ihr Betragen vor dem Gemahl, dessen Gegenwart sie freilich noch nicht ahnte, und vor ihrem Sohne Te¬ lemach im vollen Glanz ihrer Seelenhoheit und ihrer Treue zu zeigen. Die alte vertraute Schaffnerin billigte ihren Entschluß: "Geh nur, Tochter," sprach sie, "und berathe deinen Sohn mit einem Worte zur rechten Zeit: aber nicht so, wie du jetzt bist, deine schönen Wangen von Thränen entstellt, mußt du hinuntergehen; sondern bade und salbe dich zuvor, und alsdann zeige dich den Freiern." Aber Penelope antwortete kopfschüttelnd: "Muthe mir das nicht zu, gute Alte; alle Lust mich zu schmücken, ist mir vergangen, seit mein Gemahl mit seinen Schiffen gen Troja fuhr. Aber rufe mir meine Dienerinnen Au¬ tonoe und Hippodamia, daß sie im Saale mir zur Seite stehen; denn unbegleitet zu den Männern hinabzugehen verbietet mir ja die Schaam."
Während Eurynome die Schaffnerin mit diesem Auftrage sich entfernte, versenkte Athene die Gattin des Odysseus auf Augenblicke in einen süßen Schlummer, daß sie sich sanft in ihrem Sessel streckte, und verlieh ihr die Gaben überirdischer Schönheit; das Gesicht wusch sie ihr mit Ambrosia, womit sich Aphrodite zu salben pflegt, wenn sie mit den Grazien den Reigen führen
Penelope vor den Freiern.
Jetzt legte es Pallas Athene der Königin in die Seele, vor den Freiern zu erſcheinen, einem Jeden von ihnen ſein Herz recht mit Sehnſucht zu füllen, und ſich durch ihr Betragen vor dem Gemahl, deſſen Gegenwart ſie freilich noch nicht ahnte, und vor ihrem Sohne Te¬ lemach im vollen Glanz ihrer Seelenhoheit und ihrer Treue zu zeigen. Die alte vertraute Schaffnerin billigte ihren Entſchluß: „Geh nur, Tochter,“ ſprach ſie, „und berathe deinen Sohn mit einem Worte zur rechten Zeit: aber nicht ſo, wie du jetzt biſt, deine ſchönen Wangen von Thränen entſtellt, mußt du hinuntergehen; ſondern bade und ſalbe dich zuvor, und alsdann zeige dich den Freiern.“ Aber Penelope antwortete kopfſchüttelnd: „Muthe mir das nicht zu, gute Alte; alle Luſt mich zu ſchmücken, iſt mir vergangen, ſeit mein Gemahl mit ſeinen Schiffen gen Troja fuhr. Aber rufe mir meine Dienerinnen Au¬ tonoe und Hippodamia, daß ſie im Saale mir zur Seite ſtehen; denn unbegleitet zu den Männern hinabzugehen verbietet mir ja die Schaam.“
Während Eurynome die Schaffnerin mit dieſem Auftrage ſich entfernte, verſenkte Athene die Gattin des Odyſſeus auf Augenblicke in einen ſüßen Schlummer, daß ſie ſich ſanft in ihrem Seſſel ſtreckte, und verlieh ihr die Gaben überirdiſcher Schönheit; das Geſicht wuſch ſie ihr mit Ambroſia, womit ſich Aphrodite zu ſalben pflegt, wenn ſie mit den Grazien den Reigen führen
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Penelope vor den Freiern.
Jetzt legte es Pallas Athene der Königin in die
Seele, vor den Freiern zu erſcheinen, einem Jeden von
ihnen ſein Herz recht mit Sehnſucht zu füllen, und ſich
durch ihr Betragen vor dem Gemahl, deſſen Gegenwart
ſie freilich noch nicht ahnte, und vor ihrem Sohne Te¬
lemach im vollen Glanz ihrer Seelenhoheit und ihrer
Treue zu zeigen. Die alte vertraute Schaffnerin billigte
ihren Entſchluß: „Geh nur, Tochter,“ ſprach ſie, „und
berathe deinen Sohn mit einem Worte zur rechten Zeit:
aber nicht ſo, wie du jetzt biſt, deine ſchönen Wangen
von Thränen entſtellt, mußt du hinuntergehen; ſondern
bade und ſalbe dich zuvor, und alsdann zeige dich den
Freiern.“ Aber Penelope antwortete kopfſchüttelnd: „Muthe
mir das nicht zu, gute Alte; alle Luſt mich zu ſchmücken,
iſt mir vergangen, ſeit mein Gemahl mit ſeinen Schiffen
gen Troja fuhr. Aber rufe mir meine Dienerinnen Au¬
tonoe und Hippodamia, daß ſie im Saale mir zur Seite
ſtehen; denn unbegleitet zu den Männern hinabzugehen
verbietet mir ja die Schaam.“
Während Eurynome die Schaffnerin mit dieſem
Auftrage ſich entfernte, verſenkte Athene die Gattin des
Odyſſeus auf Augenblicke in einen ſüßen Schlummer,
daß ſie ſich ſanft in ihrem Seſſel ſtreckte, und verlieh
ihr die Gaben überirdiſcher Schönheit; das Geſicht wuſch
ſie ihr mit Ambroſia, womit ſich Aphrodite zu ſalben
pflegt, wenn ſie mit den Grazien den Reigen führen
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/251>, abgerufen am 22.11.2024.
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