Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

das Meer in Aufruhr, Berge von Fluthen stiegen auf,
die Flotte ward auseinander geworfen, und die Schiffe
trieben zerstreut über den strudelnden Abgrund hin. Die
schwarzen Wetterwolken raubten das Tageslicht und hüll¬
ten Alles in eine dichte Regennacht, welche nur Blitz
auf Blitz aus den zerrissenen Wolken erhellte. Dieses
fürchterliche Ungewitter dauerte drei Tage und drei stern¬
lose Nächte, und während dieser Zeit wußte selbst der
erfahrene Steuermann der Flotte, Palinurus, nicht mehr,
wo sich in dem blinden Dunkel die Schiffenden befanden,
und welcher Himmelsgegend die umhergeworfenen Fahr¬
zeuge zugetrieben wurden. Endlich am vierten Tage legte
sich der Sturm allmählig, ein fernes Gebirg zeigte sich
am Horizont. Dieser Anblick gab den Verzweifelnden
den geschwundenen Muth wieder: als sie dem Lande
näher gekommen waren, zogen sie die Segel ein, warfen
sich über die Ruder, und wühlten mit aller Anstrengung
in dem noch immer empörten Meeresschaum.

Das Land, welches die Verirrten aufnahm, gehörte
einer der beiden Strophadeninseln an, die sich im großen
ionischen Meere befinden, der Pelopsinsel gegenüber. Es
war ein unwirthliches, durch schauerliche Bewohner ver¬
rufenes Land. Die Harpyien, die gefräßigen Ungeheuer,
seitdem sie die Wohnung des Königes Phineus verlassen
hatten, und von seinem unglücklichen Tische verscheucht
worden waren, hatten an diesem Gestade den häßlichen
Sitz aufgeschlagen. Diese grausenhaften Scheusale waren,
wie bekannt, ein Vogelgezücht mit Jungfrauengesichtern,
die aber, beständig vom Hunger gebleicht, entsetzlich an¬
zuschauen waren. An den Händen hatten sie Krallen,
mit welchen sie alle Speise ergriffen, deren sie sich

das Meer in Aufruhr, Berge von Fluthen ſtiegen auf,
die Flotte ward auseinander geworfen, und die Schiffe
trieben zerſtreut über den ſtrudelnden Abgrund hin. Die
ſchwarzen Wetterwolken raubten das Tageslicht und hüll¬
ten Alles in eine dichte Regennacht, welche nur Blitz
auf Blitz aus den zerriſſenen Wolken erhellte. Dieſes
fürchterliche Ungewitter dauerte drei Tage und drei ſtern¬
loſe Nächte, und während dieſer Zeit wußte ſelbſt der
erfahrene Steuermann der Flotte, Palinurus, nicht mehr,
wo ſich in dem blinden Dunkel die Schiffenden befanden,
und welcher Himmelsgegend die umhergeworfenen Fahr¬
zeuge zugetrieben wurden. Endlich am vierten Tage legte
ſich der Sturm allmählig, ein fernes Gebirg zeigte ſich
am Horizont. Dieſer Anblick gab den Verzweifelnden
den geſchwundenen Muth wieder: als ſie dem Lande
näher gekommen waren, zogen ſie die Segel ein, warfen
ſich über die Ruder, und wühlten mit aller Anſtrengung
in dem noch immer empörten Meeresſchaum.

Das Land, welches die Verirrten aufnahm, gehörte
einer der beiden Strophadeninſeln an, die ſich im großen
ioniſchen Meere befinden, der Pelopsinſel gegenüber. Es
war ein unwirthliches, durch ſchauerliche Bewohner ver¬
rufenes Land. Die Harpyien, die gefräßigen Ungeheuer,
ſeitdem ſie die Wohnung des Königes Phineus verlaſſen
hatten, und von ſeinem unglücklichen Tiſche verſcheucht
worden waren, hatten an dieſem Geſtade den häßlichen
Sitz aufgeſchlagen. Dieſe grauſenhaften Scheuſale waren,
wie bekannt, ein Vogelgezücht mit Jungfrauengeſichtern,
die aber, beſtändig vom Hunger gebleicht, entſetzlich an¬
zuſchauen waren. An den Händen hatten ſie Krallen,
mit welchen ſie alle Speiſe ergriffen, deren ſie ſich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0325" n="303"/>
das Meer in Aufruhr, Berge von Fluthen &#x017F;tiegen auf,<lb/>
die Flotte ward auseinander geworfen, und die Schiffe<lb/>
trieben zer&#x017F;treut über den &#x017F;trudelnden Abgrund hin. Die<lb/>
&#x017F;chwarzen Wetterwolken raubten das Tageslicht und hüll¬<lb/>
ten Alles in eine dichte Regennacht, welche nur Blitz<lb/>
auf Blitz aus den zerri&#x017F;&#x017F;enen Wolken erhellte. Die&#x017F;es<lb/>
fürchterliche Ungewitter dauerte drei Tage und drei &#x017F;tern¬<lb/>
lo&#x017F;e Nächte, und während die&#x017F;er Zeit wußte &#x017F;elb&#x017F;t der<lb/>
erfahrene Steuermann der Flotte, Palinurus, nicht mehr,<lb/>
wo &#x017F;ich in dem blinden Dunkel die Schiffenden befanden,<lb/>
und welcher Himmelsgegend die umhergeworfenen Fahr¬<lb/>
zeuge zugetrieben wurden. Endlich am vierten Tage legte<lb/>
&#x017F;ich der Sturm allmählig, ein fernes Gebirg zeigte &#x017F;ich<lb/>
am Horizont. Die&#x017F;er Anblick gab den Verzweifelnden<lb/>
den ge&#x017F;chwundenen Muth wieder: als &#x017F;ie dem Lande<lb/>
näher gekommen waren, zogen &#x017F;ie die Segel ein, warfen<lb/>
&#x017F;ich über die Ruder, und wühlten mit aller An&#x017F;trengung<lb/>
in dem noch immer empörten Meeres&#x017F;chaum.</p><lb/>
            <p>Das Land, welches die Verirrten aufnahm, gehörte<lb/>
einer der beiden Strophadenin&#x017F;eln an, die &#x017F;ich im großen<lb/>
ioni&#x017F;chen Meere befinden, der Pelopsin&#x017F;el gegenüber. Es<lb/>
war ein unwirthliches, durch &#x017F;chauerliche Bewohner ver¬<lb/>
rufenes Land. Die Harpyien, die gefräßigen Ungeheuer,<lb/>
&#x017F;eitdem &#x017F;ie die Wohnung des Königes Phineus verla&#x017F;&#x017F;en<lb/>
hatten, und von &#x017F;einem unglücklichen Ti&#x017F;che ver&#x017F;cheucht<lb/>
worden waren, hatten an die&#x017F;em Ge&#x017F;tade den häßlichen<lb/>
Sitz aufge&#x017F;chlagen. Die&#x017F;e grau&#x017F;enhaften Scheu&#x017F;ale waren,<lb/>
wie bekannt, ein Vogelgezücht mit Jungfrauenge&#x017F;ichtern,<lb/>
die aber, be&#x017F;tändig vom Hunger gebleicht, ent&#x017F;etzlich an¬<lb/>
zu&#x017F;chauen waren. An den Händen hatten &#x017F;ie Krallen,<lb/>
mit welchen &#x017F;ie alle Spei&#x017F;e ergriffen, deren &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[303/0325] das Meer in Aufruhr, Berge von Fluthen ſtiegen auf, die Flotte ward auseinander geworfen, und die Schiffe trieben zerſtreut über den ſtrudelnden Abgrund hin. Die ſchwarzen Wetterwolken raubten das Tageslicht und hüll¬ ten Alles in eine dichte Regennacht, welche nur Blitz auf Blitz aus den zerriſſenen Wolken erhellte. Dieſes fürchterliche Ungewitter dauerte drei Tage und drei ſtern¬ loſe Nächte, und während dieſer Zeit wußte ſelbſt der erfahrene Steuermann der Flotte, Palinurus, nicht mehr, wo ſich in dem blinden Dunkel die Schiffenden befanden, und welcher Himmelsgegend die umhergeworfenen Fahr¬ zeuge zugetrieben wurden. Endlich am vierten Tage legte ſich der Sturm allmählig, ein fernes Gebirg zeigte ſich am Horizont. Dieſer Anblick gab den Verzweifelnden den geſchwundenen Muth wieder: als ſie dem Lande näher gekommen waren, zogen ſie die Segel ein, warfen ſich über die Ruder, und wühlten mit aller Anſtrengung in dem noch immer empörten Meeresſchaum. Das Land, welches die Verirrten aufnahm, gehörte einer der beiden Strophadeninſeln an, die ſich im großen ioniſchen Meere befinden, der Pelopsinſel gegenüber. Es war ein unwirthliches, durch ſchauerliche Bewohner ver¬ rufenes Land. Die Harpyien, die gefräßigen Ungeheuer, ſeitdem ſie die Wohnung des Königes Phineus verlaſſen hatten, und von ſeinem unglücklichen Tiſche verſcheucht worden waren, hatten an dieſem Geſtade den häßlichen Sitz aufgeſchlagen. Dieſe grauſenhaften Scheuſale waren, wie bekannt, ein Vogelgezücht mit Jungfrauengeſichtern, die aber, beſtändig vom Hunger gebleicht, entſetzlich an¬ zuſchauen waren. An den Händen hatten ſie Krallen, mit welchen ſie alle Speiſe ergriffen, deren ſie ſich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/325
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/325>, abgerufen am 22.11.2024.