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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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Tyrus, und war dort die geliebte Gattin des reichen
Phöniziers Sychäus. Aber ihr Bruder Pygmalion, der
König von Tyrus, ein unmenschlicher Tyrann, haßte
den Schwager, und um die Liebe der Schwester unbe¬
kümmert, erschlug er ihren Gatten, geblendet von Gold¬
gier, heimlich am Altare der Götter. Der blasse Schat¬
ten des Gemordeten erschien seiner Gemahlin im Traume,
mit einer tiefen Schwertwunde in der Brust, und ent¬
schleierte ihr das geheime Verbrechen; er rieth ihr zu
schleuniger Flucht aus dem Vaterlande, und bezeichnete
ihr die unterirdische Stelle, wo der alte verborgene
Reichthum des Königs, Silber und Gold, ihre Fahrt
zu unterstützen, bereit läge. Dido folgte seinem Winke;
der Tyrannenhaß sammelte viele Gefährten um sie. Was
von Schiffen bereit lag, wurde mit dem Golde des kar¬
gen Pygmalion angefüllt. So gelangten sie an die
Küste Afrikas und an den Ort, wo du jetzt bald
die gewaltigen Mauern der neuen Stadt Karthago,
und ihre himmelansteigende Burg erblicken wirst. Hier
erkaufte sie Anfangs nur ein Stück Landes, welches
Byrsa oder Stierhaut genannt wurde, nach der That.
Denn sie verlangte nur soviel Feldes, als sie mit einer
Stierhaut zu umspannen vermöchte. Diese Haut aber
schnitt sie in so dünne Riemen, daß dieselbe den ganzen
Raum einschloß, den jetzt Byrsa, die Burg Karthago's,
einnimmt. Von dort aus erwarb sie mit ihren Schätzen
immer größeres Gebiet, und ihr königlicher Geist grün¬
dete das mächtige Reich, das sie jetzt beherrscht. Nun
wißt ihr, wo ihr seyd, ihr Männer. Aber wer seyd
denn ihr, woher kommt ihr und wohin wandert ihr?"
Mit diesen Fragen veranlaßte die Göttin eine rührende

Tyrus, und war dort die geliebte Gattin des reichen
Phöniziers Sychäus. Aber ihr Bruder Pygmalion, der
König von Tyrus, ein unmenſchlicher Tyrann, haßte
den Schwager, und um die Liebe der Schweſter unbe¬
kümmert, erſchlug er ihren Gatten, geblendet von Gold¬
gier, heimlich am Altare der Götter. Der blaſſe Schat¬
ten des Gemordeten erſchien ſeiner Gemahlin im Traume,
mit einer tiefen Schwertwunde in der Bruſt, und ent¬
ſchleierte ihr das geheime Verbrechen; er rieth ihr zu
ſchleuniger Flucht aus dem Vaterlande, und bezeichnete
ihr die unterirdiſche Stelle, wo der alte verborgene
Reichthum des Königs, Silber und Gold, ihre Fahrt
zu unterſtützen, bereit läge. Dido folgte ſeinem Winke;
der Tyrannenhaß ſammelte viele Gefährten um ſie. Was
von Schiffen bereit lag, wurde mit dem Golde des kar¬
gen Pygmalion angefüllt. So gelangten ſie an die
Küſte Afrikas und an den Ort, wo du jetzt bald
die gewaltigen Mauern der neuen Stadt Karthago,
und ihre himmelanſteigende Burg erblicken wirſt. Hier
erkaufte ſie Anfangs nur ein Stück Landes, welches
Byrſa oder Stierhaut genannt wurde, nach der That.
Denn ſie verlangte nur ſoviel Feldes, als ſie mit einer
Stierhaut zu umſpannen vermöchte. Dieſe Haut aber
ſchnitt ſie in ſo dünne Riemen, daß dieſelbe den ganzen
Raum einſchloß, den jetzt Byrſa, die Burg Karthago's,
einnimmt. Von dort aus erwarb ſie mit ihren Schätzen
immer größeres Gebiet, und ihr königlicher Geiſt grün¬
dete das mächtige Reich, das ſie jetzt beherrſcht. Nun
wißt ihr, wo ihr ſeyd, ihr Männer. Aber wer ſeyd
denn ihr, woher kommt ihr und wohin wandert ihr?“
Mit dieſen Fragen veranlaßte die Göttin eine rührende

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[319/0341] Tyrus, und war dort die geliebte Gattin des reichen Phöniziers Sychäus. Aber ihr Bruder Pygmalion, der König von Tyrus, ein unmenſchlicher Tyrann, haßte den Schwager, und um die Liebe der Schweſter unbe¬ kümmert, erſchlug er ihren Gatten, geblendet von Gold¬ gier, heimlich am Altare der Götter. Der blaſſe Schat¬ ten des Gemordeten erſchien ſeiner Gemahlin im Traume, mit einer tiefen Schwertwunde in der Bruſt, und ent¬ ſchleierte ihr das geheime Verbrechen; er rieth ihr zu ſchleuniger Flucht aus dem Vaterlande, und bezeichnete ihr die unterirdiſche Stelle, wo der alte verborgene Reichthum des Königs, Silber und Gold, ihre Fahrt zu unterſtützen, bereit läge. Dido folgte ſeinem Winke; der Tyrannenhaß ſammelte viele Gefährten um ſie. Was von Schiffen bereit lag, wurde mit dem Golde des kar¬ gen Pygmalion angefüllt. So gelangten ſie an die Küſte Afrikas und an den Ort, wo du jetzt bald die gewaltigen Mauern der neuen Stadt Karthago, und ihre himmelanſteigende Burg erblicken wirſt. Hier erkaufte ſie Anfangs nur ein Stück Landes, welches Byrſa oder Stierhaut genannt wurde, nach der That. Denn ſie verlangte nur ſoviel Feldes, als ſie mit einer Stierhaut zu umſpannen vermöchte. Dieſe Haut aber ſchnitt ſie in ſo dünne Riemen, daß dieſelbe den ganzen Raum einſchloß, den jetzt Byrſa, die Burg Karthago's, einnimmt. Von dort aus erwarb ſie mit ihren Schätzen immer größeres Gebiet, und ihr königlicher Geiſt grün¬ dete das mächtige Reich, das ſie jetzt beherrſcht. Nun wißt ihr, wo ihr ſeyd, ihr Männer. Aber wer ſeyd denn ihr, woher kommt ihr und wohin wandert ihr?“ Mit dieſen Fragen veranlaßte die Göttin eine rührende

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/341>, abgerufen am 25.11.2024.