Erzählung seines Schicksals aus dem Munde ihres Sohnes, dessen Klage sie jedoch bald unterbrach: "Wenn meine Eltern mich nicht umsonst die Deutung des Vo¬ gelflugs gelehrt haben", sagte sie, "so verkündige ich dir die Rettung deiner verschlagenen Schiffe, und die Rückkehr deiner Freunde. Denn ich sah am offenen Himmel in freudigem Zuge zwölf Schwäne fliegend, die kurz zuvor ein Adler, der Vogel Jupiters, ausein¬ ander gescheucht hatte. In langem Zuge suchten sie theils das Land zu gewinnen, theils schwebten sie schon über dem gewonnenen: so erreichten auch deine Genossen schon zum Theile den Hafen, zum Theil nähern sie sich ihm mit vollen Segeln. Du aber geh immerhin auf dem betretenen Pfade fort." So sprach die Jungfrau und wandte sich um. Ihr rosiger Nacken erglänzte von überirdischem Licht, ihre ambrosischen Locken verbreiteten einen himmlischen Wohlgeruch, ihr Kleid wallte blendend zu den Fersen hernieder, ihre Gestalt erschien übermensch¬ lich, ihr ganzer Weggang verkündigte die Göttin. Jetzt erkannte Aeneas plötzlich seine Mutter, und rief die Fliehende vergebens zurück. Diese aber umhüllte die Wanderer mit einer dichten Umkleidung von Nebel, daß Niemand sie schauen und ihre Absichten erforschen könnte. Sie selbst schwebte hoch durch die Lüfte nach ihrem Lieblingssitze Paphos.
Erzählung ſeines Schickſals aus dem Munde ihres Sohnes, deſſen Klage ſie jedoch bald unterbrach: „Wenn meine Eltern mich nicht umſonſt die Deutung des Vo¬ gelflugs gelehrt haben“, ſagte ſie, „ſo verkündige ich dir die Rettung deiner verſchlagenen Schiffe, und die Rückkehr deiner Freunde. Denn ich ſah am offenen Himmel in freudigem Zuge zwölf Schwäne fliegend, die kurz zuvor ein Adler, der Vogel Jupiters, ausein¬ ander geſcheucht hatte. In langem Zuge ſuchten ſie theils das Land zu gewinnen, theils ſchwebten ſie ſchon über dem gewonnenen: ſo erreichten auch deine Genoſſen ſchon zum Theile den Hafen, zum Theil nähern ſie ſich ihm mit vollen Segeln. Du aber geh immerhin auf dem betretenen Pfade fort.“ So ſprach die Jungfrau und wandte ſich um. Ihr roſiger Nacken erglänzte von überirdiſchem Licht, ihre ambroſiſchen Locken verbreiteten einen himmliſchen Wohlgeruch, ihr Kleid wallte blendend zu den Ferſen hernieder, ihre Geſtalt erſchien übermenſch¬ lich, ihr ganzer Weggang verkündigte die Göttin. Jetzt erkannte Aeneas plötzlich ſeine Mutter, und rief die Fliehende vergebens zurück. Dieſe aber umhüllte die Wanderer mit einer dichten Umkleidung von Nebel, daß Niemand ſie ſchauen und ihre Abſichten erforſchen könnte. Sie ſelbſt ſchwebte hoch durch die Lüfte nach ihrem Lieblingsſitze Paphos.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0342"n="320"/>
Erzählung ſeines Schickſals aus dem Munde ihres<lb/>
Sohnes, deſſen Klage ſie jedoch bald unterbrach: „Wenn<lb/>
meine Eltern mich nicht umſonſt die Deutung des Vo¬<lb/>
gelflugs gelehrt haben“, ſagte ſie, „ſo verkündige ich<lb/>
dir die Rettung deiner verſchlagenen Schiffe, und die<lb/>
Rückkehr deiner Freunde. Denn ich ſah am offenen<lb/>
Himmel in freudigem Zuge zwölf Schwäne fliegend,<lb/>
die kurz zuvor ein Adler, der Vogel Jupiters, ausein¬<lb/>
ander geſcheucht hatte. In langem Zuge ſuchten ſie<lb/>
theils das Land zu gewinnen, theils ſchwebten ſie ſchon<lb/>
über dem gewonnenen: ſo erreichten auch deine Genoſſen<lb/>ſchon zum Theile den Hafen, zum Theil nähern ſie ſich<lb/>
ihm mit vollen Segeln. Du aber geh immerhin auf<lb/>
dem betretenen Pfade fort.“ So ſprach die Jungfrau<lb/>
und wandte ſich um. Ihr roſiger Nacken erglänzte von<lb/>
überirdiſchem Licht, ihre ambroſiſchen Locken verbreiteten<lb/>
einen himmliſchen Wohlgeruch, ihr Kleid wallte blendend<lb/>
zu den Ferſen hernieder, ihre Geſtalt erſchien übermenſch¬<lb/>
lich, ihr ganzer Weggang verkündigte die Göttin. Jetzt<lb/>
erkannte Aeneas plötzlich ſeine Mutter, und rief die<lb/>
Fliehende vergebens zurück. Dieſe aber umhüllte die<lb/>
Wanderer mit einer dichten Umkleidung von Nebel, daß<lb/>
Niemand ſie ſchauen und ihre Abſichten erforſchen könnte.<lb/>
Sie ſelbſt ſchwebte hoch durch die Lüfte nach ihrem<lb/>
Lieblingsſitze Paphos.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div></div></div></body></text></TEI>
[320/0342]
Erzählung ſeines Schickſals aus dem Munde ihres
Sohnes, deſſen Klage ſie jedoch bald unterbrach: „Wenn
meine Eltern mich nicht umſonſt die Deutung des Vo¬
gelflugs gelehrt haben“, ſagte ſie, „ſo verkündige ich
dir die Rettung deiner verſchlagenen Schiffe, und die
Rückkehr deiner Freunde. Denn ich ſah am offenen
Himmel in freudigem Zuge zwölf Schwäne fliegend,
die kurz zuvor ein Adler, der Vogel Jupiters, ausein¬
ander geſcheucht hatte. In langem Zuge ſuchten ſie
theils das Land zu gewinnen, theils ſchwebten ſie ſchon
über dem gewonnenen: ſo erreichten auch deine Genoſſen
ſchon zum Theile den Hafen, zum Theil nähern ſie ſich
ihm mit vollen Segeln. Du aber geh immerhin auf
dem betretenen Pfade fort.“ So ſprach die Jungfrau
und wandte ſich um. Ihr roſiger Nacken erglänzte von
überirdiſchem Licht, ihre ambroſiſchen Locken verbreiteten
einen himmliſchen Wohlgeruch, ihr Kleid wallte blendend
zu den Ferſen hernieder, ihre Geſtalt erſchien übermenſch¬
lich, ihr ganzer Weggang verkündigte die Göttin. Jetzt
erkannte Aeneas plötzlich ſeine Mutter, und rief die
Fliehende vergebens zurück. Dieſe aber umhüllte die
Wanderer mit einer dichten Umkleidung von Nebel, daß
Niemand ſie ſchauen und ihre Abſichten erforſchen könnte.
Sie ſelbſt ſchwebte hoch durch die Lüfte nach ihrem
Lieblingsſitze Paphos.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/342>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.