du nichts mehr von deinem Sohn Askanius, und von der Römerherrschaft, die du gründen sollst? Wisse, Ju¬ piter sendet mich vom Olymp, dich zu strafen, dich fort¬ zutreiben!"
Der Gott war entflogen, ehe sich Aeneas von seiner Betäubung erholen konnte, aber das Göttergebot hallte in seiner Seele nach, und gestattete ihm nicht mehr an Anderes zu denken, als an schleunige Flucht. Nachdem er seinen Vorsatz von allen Seiten geprüft und erwogen, berief er seine vertrautesten Genossen zu sich an einen einsamen Ort, und befahl ihnen, in aller Stille die Flotte zu rüsten, die Genossen am Strande zu versammeln, die Waffen in Bereitschaft zu halten, aber die Ursache dieses neuen Beginnens aufs Vorsichtigste zu verheimlichen. Er selbst wolle, noch bevor Dido den vom Himmel er¬ zwungenen Treubruch ahne, die günstigste Stunde aus¬ spähen, um ihr so mild als möglich den Beschluß des Schicksals beizubringen.
Aber wer kann sich vor einem liebenden Herzen verbergen? Die Königin merkte den Betrug; war sie doch schon bange, als Alles noch sicher war. Jetzt hatte ihr die tückische Fama gemeldet, daß die Trojaner ihre Flotte rüsten und die Abfahrt betreiben. Wie wahnsin¬ nig irrte sie in den Straßen ihrer Stadt umher, und endlich trat sie vor ihren Geliebten selbst, und sprach zu ihm: "Treuloser, du hofftest dein Verbrechen mir zu ver¬ hehlen, und dich schweigend aus meinem Lande zu schlei¬ chen, meine Liebe, meine Hand, mein Tod kann dich nicht zurückhalten? Mitten im Winter betreibst du die Fahrt, Grausamer, und willst dich lieber den Nord¬ winden in den Arm werfen, als in meinen Armen ruhen?
Schwab, das klass. Alterthum. III. 22
du nichts mehr von deinem Sohn Askanius, und von der Römerherrſchaft, die du gründen ſollſt? Wiſſe, Ju¬ piter ſendet mich vom Olymp, dich zu ſtrafen, dich fort¬ zutreiben!“
Der Gott war entflogen, ehe ſich Aeneas von ſeiner Betäubung erholen konnte, aber das Göttergebot hallte in ſeiner Seele nach, und geſtattete ihm nicht mehr an Anderes zu denken, als an ſchleunige Flucht. Nachdem er ſeinen Vorſatz von allen Seiten geprüft und erwogen, berief er ſeine vertrauteſten Genoſſen zu ſich an einen einſamen Ort, und befahl ihnen, in aller Stille die Flotte zu rüſten, die Genoſſen am Strande zu verſammeln, die Waffen in Bereitſchaft zu halten, aber die Urſache dieſes neuen Beginnens aufs Vorſichtigſte zu verheimlichen. Er ſelbſt wolle, noch bevor Dido den vom Himmel er¬ zwungenen Treubruch ahne, die günſtigſte Stunde aus¬ ſpähen, um ihr ſo mild als möglich den Beſchluß des Schickſals beizubringen.
Aber wer kann ſich vor einem liebenden Herzen verbergen? Die Königin merkte den Betrug; war ſie doch ſchon bange, als Alles noch ſicher war. Jetzt hatte ihr die tückiſche Fama gemeldet, daß die Trojaner ihre Flotte rüſten und die Abfahrt betreiben. Wie wahnſin¬ nig irrte ſie in den Straßen ihrer Stadt umher, und endlich trat ſie vor ihren Geliebten ſelbſt, und ſprach zu ihm: „Treuloſer, du hoffteſt dein Verbrechen mir zu ver¬ hehlen, und dich ſchweigend aus meinem Lande zu ſchlei¬ chen, meine Liebe, meine Hand, mein Tod kann dich nicht zurückhalten? Mitten im Winter betreibſt du die Fahrt, Grauſamer, und willſt dich lieber den Nord¬ winden in den Arm werfen, als in meinen Armen ruhen?
Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 22
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du nichts mehr von deinem Sohn Askanius, und von
der Römerherrſchaft, die du gründen ſollſt? Wiſſe, Ju¬
piter ſendet mich vom Olymp, dich zu ſtrafen, dich fort¬
zutreiben!“
Der Gott war entflogen, ehe ſich Aeneas von ſeiner
Betäubung erholen konnte, aber das Göttergebot hallte
in ſeiner Seele nach, und geſtattete ihm nicht mehr an
Anderes zu denken, als an ſchleunige Flucht. Nachdem
er ſeinen Vorſatz von allen Seiten geprüft und erwogen,
berief er ſeine vertrauteſten Genoſſen zu ſich an einen
einſamen Ort, und befahl ihnen, in aller Stille die Flotte
zu rüſten, die Genoſſen am Strande zu verſammeln, die
Waffen in Bereitſchaft zu halten, aber die Urſache dieſes
neuen Beginnens aufs Vorſichtigſte zu verheimlichen.
Er ſelbſt wolle, noch bevor Dido den vom Himmel er¬
zwungenen Treubruch ahne, die günſtigſte Stunde aus¬
ſpähen, um ihr ſo mild als möglich den Beſchluß des
Schickſals beizubringen.
Aber wer kann ſich vor einem liebenden Herzen
verbergen? Die Königin merkte den Betrug; war ſie
doch ſchon bange, als Alles noch ſicher war. Jetzt hatte
ihr die tückiſche Fama gemeldet, daß die Trojaner ihre
Flotte rüſten und die Abfahrt betreiben. Wie wahnſin¬
nig irrte ſie in den Straßen ihrer Stadt umher, und
endlich trat ſie vor ihren Geliebten ſelbſt, und ſprach zu
ihm: „Treuloſer, du hoffteſt dein Verbrechen mir zu ver¬
hehlen, und dich ſchweigend aus meinem Lande zu ſchlei¬
chen, meine Liebe, meine Hand, mein Tod kann dich
nicht zurückhalten? Mitten im Winter betreibſt du die
Fahrt, Grauſamer, und willſt dich lieber den Nord¬
winden in den Arm werfen, als in meinen Armen ruhen?
Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 22
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/359>, abgerufen am 22.11.2024.
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