Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

Seitwärts gewendet, blickte schon lange die Königin
den Redenden an, ließ die Augen rollen, maß ihn schwei¬
gend von der Sohle bis zum Scheitel, und brach endlich
in die Worte der Entrüstung aus: "Keine Göttin hat
dich geboren, nicht Dardanus ist dein Ahn, aus den
Felsen des Kaukasus bist du entsprossen, hyrkanische Tiger
haben dich gesäugt! Hat er bei meinen Thränen auch
geseufzt? Hat er nur das Auge verwendet, die Liebende
beweint, bedauert? Als Bettler an den Strand geworfen,
habe ich ihn aufgenommen, die Flotte, die Genossen aus
dem Rachen des Todes ihm zurückgegeben, ihn zu meines
Thrones Gemeinschaft erhoben: und nun schützt er ein
Orakel des Apollo, nun gar die Ankunft eines Götter¬
boten vor, und einen Befehl der Himmlischen, als ob
diesen der Treubruch am Herzen läge! Nun wohl, ich
streite nicht, ich halte dich nicht, suche dein Italien im
Sturm! Wenn es noch Götter gibt, wird meine Rache
dich in den Klippen finden! Mein Schatten zieht dir
nach, und wenn du büßest, werd' ich es in der Tiefe
des Hades vernehmen!" Athem und Stimme versagten
der Unglücklichen, und sie wurde von den Armen ihrer
Dienerinnen aufgefangen.

Wohl fühlte sich Aeneas versucht, den Kummer
Dido's durch liebreichen Trost zu lindern, und seine
eigene große Liebe zu der Königin bewegte ihm den Geist,
doch vermochte sie nicht ihn wankend zu machen; er
blieb dem Gebote der Götter treu und wanderte nach
seiner Flotte. Diese war bald segelfertig, und Dido
mußte es von der Zinne ihrer Burg mit ansehen, wie
das Ufer von den Abziehenden wimmelte. "Anna,"
sprach sie zur herbeigerufenen Schwester, "siehest du das

22 *

Seitwärts gewendet, blickte ſchon lange die Königin
den Redenden an, ließ die Augen rollen, maß ihn ſchwei¬
gend von der Sohle bis zum Scheitel, und brach endlich
in die Worte der Entrüſtung aus: „Keine Göttin hat
dich geboren, nicht Dardanus iſt dein Ahn, aus den
Felſen des Kaukaſus biſt du entſproſſen, hyrkaniſche Tiger
haben dich geſäugt! Hat er bei meinen Thränen auch
geſeufzt? Hat er nur das Auge verwendet, die Liebende
beweint, bedauert? Als Bettler an den Strand geworfen,
habe ich ihn aufgenommen, die Flotte, die Genoſſen aus
dem Rachen des Todes ihm zurückgegeben, ihn zu meines
Thrones Gemeinſchaft erhoben: und nun ſchützt er ein
Orakel des Apollo, nun gar die Ankunft eines Götter¬
boten vor, und einen Befehl der Himmliſchen, als ob
dieſen der Treubruch am Herzen läge! Nun wohl, ich
ſtreite nicht, ich halte dich nicht, ſuche dein Italien im
Sturm! Wenn es noch Götter gibt, wird meine Rache
dich in den Klippen finden! Mein Schatten zieht dir
nach, und wenn du büßeſt, werd' ich es in der Tiefe
des Hades vernehmen!“ Athem und Stimme verſagten
der Unglücklichen, und ſie wurde von den Armen ihrer
Dienerinnen aufgefangen.

Wohl fühlte ſich Aeneas verſucht, den Kummer
Dido's durch liebreichen Troſt zu lindern, und ſeine
eigene große Liebe zu der Königin bewegte ihm den Geiſt,
doch vermochte ſie nicht ihn wankend zu machen; er
blieb dem Gebote der Götter treu und wanderte nach
ſeiner Flotte. Dieſe war bald ſegelfertig, und Dido
mußte es von der Zinne ihrer Burg mit anſehen, wie
das Ufer von den Abziehenden wimmelte. „Anna,“
ſprach ſie zur herbeigerufenen Schweſter, „ſieheſt du das

22 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0361" n="339"/>
            <p>Seitwärts gewendet, blickte &#x017F;chon lange die Königin<lb/>
den Redenden an, ließ die Augen rollen, maß ihn &#x017F;chwei¬<lb/>
gend von der Sohle bis zum Scheitel, und brach endlich<lb/>
in die Worte der Entrü&#x017F;tung aus: &#x201E;Keine Göttin hat<lb/>
dich geboren, nicht Dardanus i&#x017F;t dein Ahn, aus den<lb/>
Fel&#x017F;en des Kauka&#x017F;us bi&#x017F;t du ent&#x017F;pro&#x017F;&#x017F;en, hyrkani&#x017F;che Tiger<lb/>
haben dich ge&#x017F;äugt! Hat er bei meinen Thränen auch<lb/>
ge&#x017F;eufzt? Hat er nur das Auge verwendet, die Liebende<lb/>
beweint, bedauert? Als Bettler an den Strand geworfen,<lb/>
habe ich ihn aufgenommen, die Flotte, die Geno&#x017F;&#x017F;en aus<lb/>
dem Rachen des Todes ihm zurückgegeben, ihn zu meines<lb/>
Thrones Gemein&#x017F;chaft erhoben: und nun &#x017F;chützt er ein<lb/>
Orakel des Apollo, nun gar die Ankunft eines Götter¬<lb/>
boten vor, und einen Befehl der Himmli&#x017F;chen, als ob<lb/>
die&#x017F;en der Treubruch am Herzen läge! Nun wohl, ich<lb/>
&#x017F;treite nicht, ich halte dich nicht, &#x017F;uche dein Italien im<lb/>
Sturm! Wenn es noch Götter gibt, wird meine Rache<lb/>
dich in den Klippen finden! Mein Schatten zieht dir<lb/>
nach, und wenn du büße&#x017F;t, werd' ich es in der Tiefe<lb/>
des Hades vernehmen!&#x201C; Athem und Stimme ver&#x017F;agten<lb/>
der Unglücklichen, und &#x017F;ie wurde von den Armen ihrer<lb/>
Dienerinnen aufgefangen.</p><lb/>
            <p>Wohl fühlte &#x017F;ich Aeneas ver&#x017F;ucht, den Kummer<lb/>
Dido's durch liebreichen Tro&#x017F;t zu lindern, und &#x017F;eine<lb/>
eigene große Liebe zu der Königin bewegte ihm den Gei&#x017F;t,<lb/>
doch vermochte &#x017F;ie nicht ihn wankend zu machen; er<lb/>
blieb dem Gebote der Götter treu und wanderte nach<lb/>
&#x017F;einer Flotte. Die&#x017F;e war bald &#x017F;egelfertig, und Dido<lb/>
mußte es von der Zinne ihrer Burg mit an&#x017F;ehen, wie<lb/>
das Ufer von den Abziehenden wimmelte. &#x201E;Anna,&#x201C;<lb/>
&#x017F;prach &#x017F;ie zur herbeigerufenen Schwe&#x017F;ter, &#x201E;&#x017F;iehe&#x017F;t du das<lb/>
<fw type="sig" place="bottom">22 *<lb/></fw>
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[339/0361] Seitwärts gewendet, blickte ſchon lange die Königin den Redenden an, ließ die Augen rollen, maß ihn ſchwei¬ gend von der Sohle bis zum Scheitel, und brach endlich in die Worte der Entrüſtung aus: „Keine Göttin hat dich geboren, nicht Dardanus iſt dein Ahn, aus den Felſen des Kaukaſus biſt du entſproſſen, hyrkaniſche Tiger haben dich geſäugt! Hat er bei meinen Thränen auch geſeufzt? Hat er nur das Auge verwendet, die Liebende beweint, bedauert? Als Bettler an den Strand geworfen, habe ich ihn aufgenommen, die Flotte, die Genoſſen aus dem Rachen des Todes ihm zurückgegeben, ihn zu meines Thrones Gemeinſchaft erhoben: und nun ſchützt er ein Orakel des Apollo, nun gar die Ankunft eines Götter¬ boten vor, und einen Befehl der Himmliſchen, als ob dieſen der Treubruch am Herzen läge! Nun wohl, ich ſtreite nicht, ich halte dich nicht, ſuche dein Italien im Sturm! Wenn es noch Götter gibt, wird meine Rache dich in den Klippen finden! Mein Schatten zieht dir nach, und wenn du büßeſt, werd' ich es in der Tiefe des Hades vernehmen!“ Athem und Stimme verſagten der Unglücklichen, und ſie wurde von den Armen ihrer Dienerinnen aufgefangen. Wohl fühlte ſich Aeneas verſucht, den Kummer Dido's durch liebreichen Troſt zu lindern, und ſeine eigene große Liebe zu der Königin bewegte ihm den Geiſt, doch vermochte ſie nicht ihn wankend zu machen; er blieb dem Gebote der Götter treu und wanderte nach ſeiner Flotte. Dieſe war bald ſegelfertig, und Dido mußte es von der Zinne ihrer Burg mit anſehen, wie das Ufer von den Abziehenden wimmelte. „Anna,“ ſprach ſie zur herbeigerufenen Schweſter, „ſieheſt du das 22 *

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/361
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 339. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/361>, abgerufen am 22.11.2024.