"Deine Rede überrascht mich nicht," erwiederte mit einem tiefen Seufzer Elektra. "Ich wußte wohl, daß du meinen Vorschlag weit von dir werfen würdest. So muß ich denn ganz allein, mit eigenen Händen, an das Werk gehen. Wohl, es ist auch so recht!" Weinend umschlang sie Chrysothemis. Aber die hohe Jungfrau blieb unerbittlich. "Geh," sprach sie kalt, "zeige nur Alles deiner Mutter an." Und als die Schwester wei¬ nend den Kopf schüttelte und davon ging, so rief sie ihr nach: "Geh, geh! nie werde ich deinem Tritte folgen!"
Sie saß noch immer unbeweglich auf der Schwelle des Pallastes, als zwei junge Männer in der Begleitung anderer mit einer Todtenurne dahergeschritten kamen. Der schönste und blühendste von ihnen wandte sich an Elektra, fragte nach der Wohnung des Königes Aegis¬ thus, und gab sich als einen der Abgesandten aus Pho¬ cis kund. Da sprang Elektra auf, und streckte die Hände nach der Urne aus. "Bei den Göttern, Fremdling!" rief sie, "wenn Ihn dieß Gefäß verhüllet, so gieb es mir, auf daß ich mit seiner Asche den ganzen, unglück¬ seligen Stamm bejammere!"
"Wer sie auch seyn mag," sprach der Jüngling, die Jungfrau aufmerksamer betrachtend, "gebet ihr die Urne. Sicherlich hegt sie keine Feindschaft gegen den Todten, ist vielmehr eine Freundin, oder gar ein ihm anverwandtes Blut!" Elektra faßte die Urne mit beiden Händen, drückte sie wieder und immer wieder ans Herz, und rief dazu in unverhaltenem Jammerton: "O du Ueberrest des geliebtesten Menschen! Wie mit ganz an¬ derer Hoffnung habe ich dich ausgesandt und begrüße dich jetzt, da du so zurückkehrest! Wär' ich doch lieber
„Deine Rede überraſcht mich nicht,“ erwiederte mit einem tiefen Seufzer Elektra. „Ich wußte wohl, daß du meinen Vorſchlag weit von dir werfen würdeſt. So muß ich denn ganz allein, mit eigenen Händen, an das Werk gehen. Wohl, es iſt auch ſo recht!“ Weinend umſchlang ſie Chryſothemis. Aber die hohe Jungfrau blieb unerbittlich. „Geh,“ ſprach ſie kalt, „zeige nur Alles deiner Mutter an.“ Und als die Schweſter wei¬ nend den Kopf ſchüttelte und davon ging, ſo rief ſie ihr nach: „Geh, geh! nie werde ich deinem Tritte folgen!“
Sie ſaß noch immer unbeweglich auf der Schwelle des Pallaſtes, als zwei junge Männer in der Begleitung anderer mit einer Todtenurne dahergeſchritten kamen. Der ſchönſte und blühendſte von ihnen wandte ſich an Elektra, fragte nach der Wohnung des Königes Aegis¬ thus, und gab ſich als einen der Abgeſandten aus Pho¬ cis kund. Da ſprang Elektra auf, und ſtreckte die Hände nach der Urne aus. „Bei den Göttern, Fremdling!“ rief ſie, „wenn Ihn dieß Gefäß verhüllet, ſo gieb es mir, auf daß ich mit ſeiner Aſche den ganzen, unglück¬ ſeligen Stamm bejammere!“
„Wer ſie auch ſeyn mag,“ ſprach der Jüngling, die Jungfrau aufmerkſamer betrachtend, „gebet ihr die Urne. Sicherlich hegt ſie keine Feindſchaft gegen den Todten, iſt vielmehr eine Freundin, oder gar ein ihm anverwandtes Blut!“ Elektra faßte die Urne mit beiden Händen, drückte ſie wieder und immer wieder ans Herz, und rief dazu in unverhaltenem Jammerton: „O du Ueberreſt des geliebteſten Menſchen! Wie mit ganz an¬ derer Hoffnung habe ich dich ausgeſandt und begrüße dich jetzt, da du ſo zurückkehreſt! Wär' ich doch lieber
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„Deine Rede überraſcht mich nicht,“ erwiederte mit
einem tiefen Seufzer Elektra. „Ich wußte wohl, daß
du meinen Vorſchlag weit von dir werfen würdeſt. So
muß ich denn ganz allein, mit eigenen Händen, an das
Werk gehen. Wohl, es iſt auch ſo recht!“ Weinend
umſchlang ſie Chryſothemis. Aber die hohe Jungfrau
blieb unerbittlich. „Geh,“ ſprach ſie kalt, „zeige nur
Alles deiner Mutter an.“ Und als die Schweſter wei¬
nend den Kopf ſchüttelte und davon ging, ſo rief ſie ihr
nach: „Geh, geh! nie werde ich deinem Tritte folgen!“
Sie ſaß noch immer unbeweglich auf der Schwelle
des Pallaſtes, als zwei junge Männer in der Begleitung
anderer mit einer Todtenurne dahergeſchritten kamen.
Der ſchönſte und blühendſte von ihnen wandte ſich an
Elektra, fragte nach der Wohnung des Königes Aegis¬
thus, und gab ſich als einen der Abgeſandten aus Pho¬
cis kund. Da ſprang Elektra auf, und ſtreckte die Hände
nach der Urne aus. „Bei den Göttern, Fremdling!“
rief ſie, „wenn Ihn dieß Gefäß verhüllet, ſo gieb es
mir, auf daß ich mit ſeiner Aſche den ganzen, unglück¬
ſeligen Stamm bejammere!“
„Wer ſie auch ſeyn mag,“ ſprach der Jüngling,
die Jungfrau aufmerkſamer betrachtend, „gebet ihr die
Urne. Sicherlich hegt ſie keine Feindſchaft gegen den
Todten, iſt vielmehr eine Freundin, oder gar ein ihm
anverwandtes Blut!“ Elektra faßte die Urne mit beiden
Händen, drückte ſie wieder und immer wieder ans Herz,
und rief dazu in unverhaltenem Jammerton: „O du
Ueberreſt des geliebteſten Menſchen! Wie mit ganz an¬
derer Hoffnung habe ich dich ausgeſandt und begrüße
dich jetzt, da du ſo zurückkehreſt! Wär' ich doch lieber
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/47>, abgerufen am 21.11.2024.
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