Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

"Deine Rede überrascht mich nicht," erwiederte mit
einem tiefen Seufzer Elektra. "Ich wußte wohl, daß
du meinen Vorschlag weit von dir werfen würdest. So
muß ich denn ganz allein, mit eigenen Händen, an das
Werk gehen. Wohl, es ist auch so recht!" Weinend
umschlang sie Chrysothemis. Aber die hohe Jungfrau
blieb unerbittlich. "Geh," sprach sie kalt, "zeige nur
Alles deiner Mutter an." Und als die Schwester wei¬
nend den Kopf schüttelte und davon ging, so rief sie ihr
nach: "Geh, geh! nie werde ich deinem Tritte folgen!"

Sie saß noch immer unbeweglich auf der Schwelle
des Pallastes, als zwei junge Männer in der Begleitung
anderer mit einer Todtenurne dahergeschritten kamen.
Der schönste und blühendste von ihnen wandte sich an
Elektra, fragte nach der Wohnung des Königes Aegis¬
thus, und gab sich als einen der Abgesandten aus Pho¬
cis kund. Da sprang Elektra auf, und streckte die Hände
nach der Urne aus. "Bei den Göttern, Fremdling!"
rief sie, "wenn Ihn dieß Gefäß verhüllet, so gieb es
mir, auf daß ich mit seiner Asche den ganzen, unglück¬
seligen Stamm bejammere!"

"Wer sie auch seyn mag," sprach der Jüngling,
die Jungfrau aufmerksamer betrachtend, "gebet ihr die
Urne. Sicherlich hegt sie keine Feindschaft gegen den
Todten, ist vielmehr eine Freundin, oder gar ein ihm
anverwandtes Blut!" Elektra faßte die Urne mit beiden
Händen, drückte sie wieder und immer wieder ans Herz,
und rief dazu in unverhaltenem Jammerton: "O du
Ueberrest des geliebtesten Menschen! Wie mit ganz an¬
derer Hoffnung habe ich dich ausgesandt und begrüße
dich jetzt, da du so zurückkehrest! Wär' ich doch lieber

„Deine Rede überraſcht mich nicht,“ erwiederte mit
einem tiefen Seufzer Elektra. „Ich wußte wohl, daß
du meinen Vorſchlag weit von dir werfen würdeſt. So
muß ich denn ganz allein, mit eigenen Händen, an das
Werk gehen. Wohl, es iſt auch ſo recht!“ Weinend
umſchlang ſie Chryſothemis. Aber die hohe Jungfrau
blieb unerbittlich. „Geh,“ ſprach ſie kalt, „zeige nur
Alles deiner Mutter an.“ Und als die Schweſter wei¬
nend den Kopf ſchüttelte und davon ging, ſo rief ſie ihr
nach: „Geh, geh! nie werde ich deinem Tritte folgen!“

Sie ſaß noch immer unbeweglich auf der Schwelle
des Pallaſtes, als zwei junge Männer in der Begleitung
anderer mit einer Todtenurne dahergeſchritten kamen.
Der ſchönſte und blühendſte von ihnen wandte ſich an
Elektra, fragte nach der Wohnung des Königes Aegis¬
thus, und gab ſich als einen der Abgeſandten aus Pho¬
cis kund. Da ſprang Elektra auf, und ſtreckte die Hände
nach der Urne aus. „Bei den Göttern, Fremdling!“
rief ſie, „wenn Ihn dieß Gefäß verhüllet, ſo gieb es
mir, auf daß ich mit ſeiner Aſche den ganzen, unglück¬
ſeligen Stamm bejammere!“

„Wer ſie auch ſeyn mag,“ ſprach der Jüngling,
die Jungfrau aufmerkſamer betrachtend, „gebet ihr die
Urne. Sicherlich hegt ſie keine Feindſchaft gegen den
Todten, iſt vielmehr eine Freundin, oder gar ein ihm
anverwandtes Blut!“ Elektra faßte die Urne mit beiden
Händen, drückte ſie wieder und immer wieder ans Herz,
und rief dazu in unverhaltenem Jammerton: „O du
Ueberreſt des geliebteſten Menſchen! Wie mit ganz an¬
derer Hoffnung habe ich dich ausgeſandt und begrüße
dich jetzt, da du ſo zurückkehreſt! Wär' ich doch lieber

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0047" n="25"/>
            <p>&#x201E;Deine Rede überra&#x017F;cht mich nicht,&#x201C; erwiederte mit<lb/>
einem tiefen Seufzer Elektra. &#x201E;Ich wußte wohl, daß<lb/>
du meinen Vor&#x017F;chlag weit von dir werfen würde&#x017F;t. So<lb/>
muß ich denn ganz allein, mit eigenen Händen, an das<lb/>
Werk gehen. Wohl, es i&#x017F;t auch &#x017F;o recht!&#x201C; Weinend<lb/>
um&#x017F;chlang &#x017F;ie Chry&#x017F;othemis. Aber die hohe Jungfrau<lb/>
blieb unerbittlich. &#x201E;Geh,&#x201C; &#x017F;prach &#x017F;ie kalt, &#x201E;zeige nur<lb/>
Alles deiner Mutter an.&#x201C; Und als die Schwe&#x017F;ter wei¬<lb/>
nend den Kopf &#x017F;chüttelte und davon ging, &#x017F;o rief &#x017F;ie ihr<lb/>
nach: &#x201E;Geh, geh! nie werde ich deinem Tritte folgen!&#x201C;</p><lb/>
            <p>Sie &#x017F;aß noch immer unbeweglich auf der Schwelle<lb/>
des Palla&#x017F;tes, als zwei junge Männer in der Begleitung<lb/>
anderer mit einer Todtenurne daherge&#x017F;chritten kamen.<lb/>
Der &#x017F;chön&#x017F;te und blühend&#x017F;te von ihnen wandte &#x017F;ich an<lb/>
Elektra, fragte nach der Wohnung des Königes Aegis¬<lb/>
thus, und gab &#x017F;ich als einen der Abge&#x017F;andten aus Pho¬<lb/>
cis kund. Da &#x017F;prang Elektra auf, und &#x017F;treckte die Hände<lb/>
nach der Urne aus. &#x201E;Bei den Göttern, Fremdling!&#x201C;<lb/>
rief &#x017F;ie, &#x201E;wenn Ihn dieß Gefäß verhüllet, &#x017F;o gieb es<lb/>
mir, auf daß ich mit &#x017F;einer A&#x017F;che den ganzen, unglück¬<lb/>
&#x017F;eligen Stamm bejammere!&#x201C;</p><lb/>
            <p>&#x201E;Wer &#x017F;ie auch &#x017F;eyn mag,&#x201C; &#x017F;prach der Jüngling,<lb/>
die Jungfrau aufmerk&#x017F;amer betrachtend, &#x201E;gebet ihr die<lb/>
Urne. Sicherlich hegt &#x017F;ie keine Feind&#x017F;chaft gegen den<lb/>
Todten, i&#x017F;t vielmehr eine Freundin, oder gar ein ihm<lb/>
anverwandtes Blut!&#x201C; Elektra faßte die Urne mit beiden<lb/>
Händen, drückte &#x017F;ie wieder und immer wieder ans Herz,<lb/>
und rief dazu in unverhaltenem Jammerton: &#x201E;O du<lb/>
Ueberre&#x017F;t des geliebte&#x017F;ten Men&#x017F;chen! Wie mit ganz an¬<lb/>
derer Hoffnung habe ich dich ausge&#x017F;andt und begrüße<lb/>
dich jetzt, da du &#x017F;o zurückkehre&#x017F;t! Wär' ich doch lieber<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[25/0047] „Deine Rede überraſcht mich nicht,“ erwiederte mit einem tiefen Seufzer Elektra. „Ich wußte wohl, daß du meinen Vorſchlag weit von dir werfen würdeſt. So muß ich denn ganz allein, mit eigenen Händen, an das Werk gehen. Wohl, es iſt auch ſo recht!“ Weinend umſchlang ſie Chryſothemis. Aber die hohe Jungfrau blieb unerbittlich. „Geh,“ ſprach ſie kalt, „zeige nur Alles deiner Mutter an.“ Und als die Schweſter wei¬ nend den Kopf ſchüttelte und davon ging, ſo rief ſie ihr nach: „Geh, geh! nie werde ich deinem Tritte folgen!“ Sie ſaß noch immer unbeweglich auf der Schwelle des Pallaſtes, als zwei junge Männer in der Begleitung anderer mit einer Todtenurne dahergeſchritten kamen. Der ſchönſte und blühendſte von ihnen wandte ſich an Elektra, fragte nach der Wohnung des Königes Aegis¬ thus, und gab ſich als einen der Abgeſandten aus Pho¬ cis kund. Da ſprang Elektra auf, und ſtreckte die Hände nach der Urne aus. „Bei den Göttern, Fremdling!“ rief ſie, „wenn Ihn dieß Gefäß verhüllet, ſo gieb es mir, auf daß ich mit ſeiner Aſche den ganzen, unglück¬ ſeligen Stamm bejammere!“ „Wer ſie auch ſeyn mag,“ ſprach der Jüngling, die Jungfrau aufmerkſamer betrachtend, „gebet ihr die Urne. Sicherlich hegt ſie keine Feindſchaft gegen den Todten, iſt vielmehr eine Freundin, oder gar ein ihm anverwandtes Blut!“ Elektra faßte die Urne mit beiden Händen, drückte ſie wieder und immer wieder ans Herz, und rief dazu in unverhaltenem Jammerton: „O du Ueberreſt des geliebteſten Menſchen! Wie mit ganz an¬ derer Hoffnung habe ich dich ausgeſandt und begrüße dich jetzt, da du ſo zurückkehreſt! Wär' ich doch lieber

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/47
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/47>, abgerufen am 21.11.2024.