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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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gestorben, anstatt dich in die Ferne hinaus zu senden;
dann wärest du an demselben Tage am Grabe des Va¬
ters als Schlachtopfer gesunken, wärest nicht in der
Verbannung umgekommen und von Fremdlingshänden
bestattet worden! So war denn all meine Pflege, all
meine süße Mühe umsonst! Das Alles ist mit dir ge¬
storben; der Vater ist todt, ich selbst bin todt, seitdem
du nicht mehr lebst: die Feinde lachen, unsere Raben¬
mutter tobt in wilder Lust, denn jetzt fürchtet sie keine
heimliche Rachebotschaften, an mich von dir gerichtet,
mehr. Ach, nähmest du mich doch mit auf in deine
Urne; ich bin vernichtet, laß mich dein Nichts mit dir
theilen!"

Als die Jungfrau so jammerte, konnte sich der
Jüngling, der an der Spitze der Gesandten stand, nicht
länger halten und seine Zunge nicht mehr zwingen.
"Ists möglich," rief er, "diese Jammergestalt soll Elektra's
edles Bild seyn? O gottlos, o frevelhaft entstellter Leib!
Wer hat dich so zugerichtet?" -- Elektra blickte ihn ver¬
wundert an, und sprach: "Das macht, ich muß, den Mör¬
dern meines Vaters dienen, gezwungen von der verruch¬
ten Mutter, und mit der Asche in dieser Urne ist alle
meine Hoffnung dahin!" -- "Stell' diesen Aschenkrug
weg!" rief der Jüngling mit thränenerstickter Stimme,
und als Elektra sich weigerte und die Urne fester ans
Herz drückte, da sprach er weiter: "weg mit der leeren
Urne, es ist ja Alles nur Schein!" da schleuderte die
Jungfrau das Gefäß von sich und rief in Verzweiflung:
"Wehe mir! wo ist sein Grab denn?" -- "Nirgends,"
war die Antwort des Jünglings; "den Lebendigen wird
kein Grab gemacht!" -- "So lebt er, lebt er?" -- "Er

geſtorben, anſtatt dich in die Ferne hinaus zu ſenden;
dann wäreſt du an demſelben Tage am Grabe des Va¬
ters als Schlachtopfer geſunken, wäreſt nicht in der
Verbannung umgekommen und von Fremdlingshänden
beſtattet worden! So war denn all meine Pflege, all
meine ſüße Mühe umſonſt! Das Alles iſt mit dir ge¬
ſtorben; der Vater iſt todt, ich ſelbſt bin todt, ſeitdem
du nicht mehr lebſt: die Feinde lachen, unſere Raben¬
mutter tobt in wilder Luſt, denn jetzt fürchtet ſie keine
heimliche Rachebotſchaften, an mich von dir gerichtet,
mehr. Ach, nähmeſt du mich doch mit auf in deine
Urne; ich bin vernichtet, laß mich dein Nichts mit dir
theilen!“

Als die Jungfrau ſo jammerte, konnte ſich der
Jüngling, der an der Spitze der Geſandten ſtand, nicht
länger halten und ſeine Zunge nicht mehr zwingen.
„Iſts möglich,“ rief er, „dieſe Jammergeſtalt ſoll Elektra's
edles Bild ſeyn? O gottlos, o frevelhaft entſtellter Leib!
Wer hat dich ſo zugerichtet?“ — Elektra blickte ihn ver¬
wundert an, und ſprach: „Das macht, ich muß, den Mör¬
dern meines Vaters dienen, gezwungen von der verruch¬
ten Mutter, und mit der Aſche in dieſer Urne iſt alle
meine Hoffnung dahin!“ — „Stell' dieſen Aſchenkrug
weg!“ rief der Jüngling mit thränenerſtickter Stimme,
und als Elektra ſich weigerte und die Urne feſter ans
Herz drückte, da ſprach er weiter: „weg mit der leeren
Urne, es iſt ja Alles nur Schein!“ da ſchleuderte die
Jungfrau das Gefäß von ſich und rief in Verzweiflung:
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war die Antwort des Jünglings; „den Lebendigen wird
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[26/0048] geſtorben, anſtatt dich in die Ferne hinaus zu ſenden; dann wäreſt du an demſelben Tage am Grabe des Va¬ ters als Schlachtopfer geſunken, wäreſt nicht in der Verbannung umgekommen und von Fremdlingshänden beſtattet worden! So war denn all meine Pflege, all meine ſüße Mühe umſonſt! Das Alles iſt mit dir ge¬ ſtorben; der Vater iſt todt, ich ſelbſt bin todt, ſeitdem du nicht mehr lebſt: die Feinde lachen, unſere Raben¬ mutter tobt in wilder Luſt, denn jetzt fürchtet ſie keine heimliche Rachebotſchaften, an mich von dir gerichtet, mehr. Ach, nähmeſt du mich doch mit auf in deine Urne; ich bin vernichtet, laß mich dein Nichts mit dir theilen!“ Als die Jungfrau ſo jammerte, konnte ſich der Jüngling, der an der Spitze der Geſandten ſtand, nicht länger halten und ſeine Zunge nicht mehr zwingen. „Iſts möglich,“ rief er, „dieſe Jammergeſtalt ſoll Elektra's edles Bild ſeyn? O gottlos, o frevelhaft entſtellter Leib! Wer hat dich ſo zugerichtet?“ — Elektra blickte ihn ver¬ wundert an, und ſprach: „Das macht, ich muß, den Mör¬ dern meines Vaters dienen, gezwungen von der verruch¬ ten Mutter, und mit der Aſche in dieſer Urne iſt alle meine Hoffnung dahin!“ — „Stell' dieſen Aſchenkrug weg!“ rief der Jüngling mit thränenerſtickter Stimme, und als Elektra ſich weigerte und die Urne feſter ans Herz drückte, da ſprach er weiter: „weg mit der leeren Urne, es iſt ja Alles nur Schein!“ da ſchleuderte die Jungfrau das Gefäß von ſich und rief in Verzweiflung: „Wehe mir! wo iſt ſein Grab denn?“ — „Nirgends,“ war die Antwort des Jünglings; „den Lebendigen wird kein Grab gemacht!“ — „So lebt er, lebt er?“ — „Er

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/48>, abgerufen am 29.04.2024.