ich von den Händen des eignen Sohnes ermordet ge¬ fallen bin? Wie viele Trankopfer, von meiner Hand euch ausgegossen, habt ihr geschlürft, wie viele nächt¬ liche Mahle habe ich euch aufgetischt. Das Alles tretet ihr jetzt mit Füßen, und eure Beute lasset ihr entrinnen, wie ein Reh, das mitten aus den Netzen davon hüpft! Höret mich, ihr Unterirdischen! Ich bins, Klytämnestra, die ihr zu rächen geschworen, und die sich jetzt in euren Traum einmischt, an euren Schwur euch zu erinnern."
Die schwarzen Göttinnen konnten des Zauberschla¬ fes nicht so bald los werden, sie fuhren fort tief auf¬ zuschnarchen, und erst die lauten Worte des Schattens, die in ihren Traum hineintönten: "Orestes, der Mutter¬ mörder, entgeht euch!" rüttelten sie endlich aus dem Schlummer empor. Eine erweckte die andere, wie wilde Thiere sprangen sie vom Lager auf, und ohne Scheu stürmten sie in den Tempel Apollo's selbst hinein, und hatten schon die Schwelle überschritten: "Jupitersohn," schrien sie ihm entgegen, "du bist ein Betrüger! du junger Gott trittst die alten Göttinnen, die Töchter der Nacht, mit Füßen, du wagst es, uns diesen Götterverächter und Mutterfeind vorzuenthalten, du hast ihn uns gestohlen, und willst doch ein Gott seyn! Ist das auch vor den Göttern Recht?" Apollo dagegen trieb die nächtlichen Göttinnen mit scheltenden Worten aus seinem sonnigen Heiligthum: "Fort von dieser Schwelle," rief er, "ihr Greuelhaften! Ihr gehört in die Höhle der Löwen, wo Blut geschlürft wird, ihr Scherginnen des Schicksals, und nicht in den heiligen und reinen Sitz eines Orakels!" Vergebens beriefen sich die Rachegöttinnen auf ihr Recht und ihr Amt. Der Gott erklärte den Verfolgten für
ich von den Händen des eignen Sohnes ermordet ge¬ fallen bin? Wie viele Trankopfer, von meiner Hand euch ausgegoſſen, habt ihr geſchlürft, wie viele nächt¬ liche Mahle habe ich euch aufgetiſcht. Das Alles tretet ihr jetzt mit Füßen, und eure Beute laſſet ihr entrinnen, wie ein Reh, das mitten aus den Netzen davon hüpft! Höret mich, ihr Unterirdiſchen! Ich bins, Klytämneſtra, die ihr zu rächen geſchworen, und die ſich jetzt in euren Traum einmiſcht, an euren Schwur euch zu erinnern.“
Die ſchwarzen Göttinnen konnten des Zauberſchla¬ fes nicht ſo bald los werden, ſie fuhren fort tief auf¬ zuſchnarchen, und erſt die lauten Worte des Schattens, die in ihren Traum hineintönten: „Oreſtes, der Mutter¬ mörder, entgeht euch!“ rüttelten ſie endlich aus dem Schlummer empor. Eine erweckte die andere, wie wilde Thiere ſprangen ſie vom Lager auf, und ohne Scheu ſtürmten ſie in den Tempel Apollo's ſelbſt hinein, und hatten ſchon die Schwelle überſchritten: „Jupiterſohn,“ ſchrien ſie ihm entgegen, „du biſt ein Betrüger! du junger Gott trittſt die alten Göttinnen, die Töchter der Nacht, mit Füßen, du wagſt es, uns dieſen Götterverächter und Mutterfeind vorzuenthalten, du haſt ihn uns geſtohlen, und willſt doch ein Gott ſeyn! Iſt das auch vor den Göttern Recht?“ Apollo dagegen trieb die nächtlichen Göttinnen mit ſcheltenden Worten aus ſeinem ſonnigen Heiligthum: „Fort von dieſer Schwelle,“ rief er, „ihr Greuelhaften! Ihr gehört in die Höhle der Löwen, wo Blut geſchlürft wird, ihr Scherginnen des Schickſals, und nicht in den heiligen und reinen Sitz eines Orakels!“ Vergebens beriefen ſich die Rachegöttinnen auf ihr Recht und ihr Amt. Der Gott erklärte den Verfolgten für
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ich von den Händen des eignen Sohnes ermordet ge¬
fallen bin? Wie viele Trankopfer, von meiner Hand
euch ausgegoſſen, habt ihr geſchlürft, wie viele nächt¬
liche Mahle habe ich euch aufgetiſcht. Das Alles tretet
ihr jetzt mit Füßen, und eure Beute laſſet ihr entrinnen,
wie ein Reh, das mitten aus den Netzen davon hüpft!
Höret mich, ihr Unterirdiſchen! Ich bins, Klytämneſtra,
die ihr zu rächen geſchworen, und die ſich jetzt in euren
Traum einmiſcht, an euren Schwur euch zu erinnern.“
Die ſchwarzen Göttinnen konnten des Zauberſchla¬
fes nicht ſo bald los werden, ſie fuhren fort tief auf¬
zuſchnarchen, und erſt die lauten Worte des Schattens,
die in ihren Traum hineintönten: „Oreſtes, der Mutter¬
mörder, entgeht euch!“ rüttelten ſie endlich aus dem
Schlummer empor. Eine erweckte die andere, wie wilde
Thiere ſprangen ſie vom Lager auf, und ohne Scheu
ſtürmten ſie in den Tempel Apollo's ſelbſt hinein, und
hatten ſchon die Schwelle überſchritten: „Jupiterſohn,“
ſchrien ſie ihm entgegen, „du biſt ein Betrüger! du junger
Gott trittſt die alten Göttinnen, die Töchter der Nacht,
mit Füßen, du wagſt es, uns dieſen Götterverächter und
Mutterfeind vorzuenthalten, du haſt ihn uns geſtohlen,
und willſt doch ein Gott ſeyn! Iſt das auch vor den
Göttern Recht?“ Apollo dagegen trieb die nächtlichen
Göttinnen mit ſcheltenden Worten aus ſeinem ſonnigen
Heiligthum: „Fort von dieſer Schwelle,“ rief er, „ihr
Greuelhaften! Ihr gehört in die Höhle der Löwen, wo
Blut geſchlürft wird, ihr Scherginnen des Schickſals,
und nicht in den heiligen und reinen Sitz eines Orakels!“
Vergebens beriefen ſich die Rachegöttinnen auf ihr Recht
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/54>, abgerufen am 24.11.2024.
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