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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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Tochter," sprachen sie, "ohne Umschweif sollst du Alles
aus unsrem Munde hören. Wir sind die Töchter der
schwarzen Nacht, und Furien nennt man uns drunten
zu Hause!" -- "Wohl kenne ich euer Geschlecht," sprach
Minerva, "und euer Ruf ist oft schon zu mir gedrungen.
Ihr seyd die Rächerinnen des Meineids und des Ver¬
wandtenmordes: was kann euch in mein reines Tem¬
pelhaus führen?"

"Dieser Mensch, der hier zu deinen Füßen deinen
Altar durch seine Gegenwart besudelt!" sprachen sie.
"Er hat seine eigene Mutter erschlagen. Richte du selbst
ihn, wir werden dein Urtheil ehren, denn wir wissen,
du bist eine strenge und gerechte Göttin!"

"Wenn ihr mir denn den Richterspruch übertraget,"
antwortete Pallas Athene, "so sprich du zuerst, Fremd¬
ling, was kannst du gegen die Aussagen dieser Unter¬
irdischen vorbringen? Nenne mir zuerst dein Vaterland,
dein Geschlecht und dein Schicksal, und alsdann reinige
dich von dem Frevel, der dir Schuld gegeben wird.
Solches gestatte ich dir, weil du vor meinem Altare
knieend liegst, und ihn als demüthiger Schützling um¬
fasset hältst! Auf alles Jenes aber antworte mir ohne
Gefährde!"

Jetzt erst wagte Orestes den Blick vom Boden zu
erheben, richtete sich auf, doch so, daß er immer noch
vor der Göttin auf den Knieen lag, und sprach: "Kö¬
nigin Athene! Vor allen Dingen sey dir die Besorg¬
niß um dein Heiligthum benommen! Ich habe keinen
unsühnbaren Mord begangen; ich umfange deinen Altar
nicht mit unsauberen Händen! Ich bin gebürtig aus
Argos, und du kennst meinen Vater wohl. Es ist Aga¬

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Tochter,“ ſprachen ſie, „ohne Umſchweif ſollſt du Alles
aus unſrem Munde hören. Wir ſind die Töchter der
ſchwarzen Nacht, und Furien nennt man uns drunten
zu Hauſe!“ — „Wohl kenne ich euer Geſchlecht,“ ſprach
Minerva, „und euer Ruf iſt oft ſchon zu mir gedrungen.
Ihr ſeyd die Rächerinnen des Meineids und des Ver¬
wandtenmordes: was kann euch in mein reines Tem¬
pelhaus führen?“

„Dieſer Menſch, der hier zu deinen Füßen deinen
Altar durch ſeine Gegenwart beſudelt!“ ſprachen ſie.
„Er hat ſeine eigene Mutter erſchlagen. Richte du ſelbſt
ihn, wir werden dein Urtheil ehren, denn wir wiſſen,
du biſt eine ſtrenge und gerechte Göttin!“

„Wenn ihr mir denn den Richterſpruch übertraget,“
antwortete Pallas Athene, „ſo ſprich du zuerſt, Fremd¬
ling, was kannſt du gegen die Ausſagen dieſer Unter¬
irdiſchen vorbringen? Nenne mir zuerſt dein Vaterland,
dein Geſchlecht und dein Schickſal, und alsdann reinige
dich von dem Frevel, der dir Schuld gegeben wird.
Solches geſtatte ich dir, weil du vor meinem Altare
knieend liegſt, und ihn als demüthiger Schützling um¬
faſſet hältſt! Auf alles Jenes aber antworte mir ohne
Gefährde!“

Jetzt erſt wagte Oreſtes den Blick vom Boden zu
erheben, richtete ſich auf, doch ſo, daß er immer noch
vor der Göttin auf den Knieen lag, und ſprach: „Kö¬
nigin Athene! Vor allen Dingen ſey dir die Beſorg¬
niß um dein Heiligthum benommen! Ich habe keinen
unſühnbaren Mord begangen; ich umfange deinen Altar
nicht mit unſauberen Händen! Ich bin gebürtig aus
Argos, und du kennſt meinen Vater wohl. Es iſt Aga¬

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[35/0057] Tochter,“ ſprachen ſie, „ohne Umſchweif ſollſt du Alles aus unſrem Munde hören. Wir ſind die Töchter der ſchwarzen Nacht, und Furien nennt man uns drunten zu Hauſe!“ — „Wohl kenne ich euer Geſchlecht,“ ſprach Minerva, „und euer Ruf iſt oft ſchon zu mir gedrungen. Ihr ſeyd die Rächerinnen des Meineids und des Ver¬ wandtenmordes: was kann euch in mein reines Tem¬ pelhaus führen?“ „Dieſer Menſch, der hier zu deinen Füßen deinen Altar durch ſeine Gegenwart beſudelt!“ ſprachen ſie. „Er hat ſeine eigene Mutter erſchlagen. Richte du ſelbſt ihn, wir werden dein Urtheil ehren, denn wir wiſſen, du biſt eine ſtrenge und gerechte Göttin!“ „Wenn ihr mir denn den Richterſpruch übertraget,“ antwortete Pallas Athene, „ſo ſprich du zuerſt, Fremd¬ ling, was kannſt du gegen die Ausſagen dieſer Unter¬ irdiſchen vorbringen? Nenne mir zuerſt dein Vaterland, dein Geſchlecht und dein Schickſal, und alsdann reinige dich von dem Frevel, der dir Schuld gegeben wird. Solches geſtatte ich dir, weil du vor meinem Altare knieend liegſt, und ihn als demüthiger Schützling um¬ faſſet hältſt! Auf alles Jenes aber antworte mir ohne Gefährde!“ Jetzt erſt wagte Oreſtes den Blick vom Boden zu erheben, richtete ſich auf, doch ſo, daß er immer noch vor der Göttin auf den Knieen lag, und ſprach: „Kö¬ nigin Athene! Vor allen Dingen ſey dir die Beſorg¬ niß um dein Heiligthum benommen! Ich habe keinen unſühnbaren Mord begangen; ich umfange deinen Altar nicht mit unſauberen Händen! Ich bin gebürtig aus Argos, und du kennſt meinen Vater wohl. Es iſt Aga¬ 3 *

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/57>, abgerufen am 24.11.2024.