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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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memnon, der Völkerfürst, der Führer der griechischen
Flotte vor Troja, mit dem du selbst Ilios herrliche Veste
zerstöret hast. Dieser, nach Hause zurückgekehrt, ist keines
ehrlichen Todes gestorben, sondern meine Mutter, die
mit dem fremden Manne buhlte, hat ihn in ein trüge¬
risches Netz gewickelt und umgebracht; das Bad war der
Zeuge seines Mordes. Da bin ich nach langer Zeit,
der ich seitdem in der Verbannung gelebt, zurück gekom¬
men ins Vaterland, und habe den Vater gerächt, und,
ich läugne es nicht, habe des geliebten Vaters Mord
mit Mord an der Mutter gerächt. Und zu dieser That
hat dein eigener Bruder Apollo mich aufgemuntert und
sein Orakel hat mir mit großer Seelenqual gedroht, wenn
ich die Mörder meines Vaters nicht bestrafte. Nun sollst
du Schiedsrichterin seyn, o Göttin, ob ich mit Recht oder
Unrecht gehandelt. Auch ich unterwerfe mich deinem
Richterspruch!"

Die Göttin schwieg eine Weile nachdenklich; dann
sprach sie: "Die Sache, die entschieden werden soll, ist
freilich so dunkel, daß ein menschliches Gericht nicht
damit fertig würde; darum, obwohl ich sterbliche Richter
für sie wählen will, ist es doch gut, daß ihr euch mit
eurem Rechtsstreit an eine Unsterbliche gewendet. Denn
ich selbst will das Gericht versammeln, in meinem Tempel
den Vorsitz führen und bei schwankendem Urtheile den
Ausschlag geben. Inzwischen soll dieser Fremdling unter
meinem Schirm unangetastet in unsrer Stadt leben. Ihr
aber, finstre, unerbittliche Göttinnen! beflecket diesen Bo¬
den nicht ohne Noth mit eurer Gegenwart. Gehet hinab
in eure unterirdische Behausung und erscheinet nicht eher
wieder in diesem Tempel, bis der anberaumte Tag des

memnon, der Völkerfürſt, der Führer der griechiſchen
Flotte vor Troja, mit dem du ſelbſt Ilios herrliche Veſte
zerſtöret haſt. Dieſer, nach Hauſe zurückgekehrt, iſt keines
ehrlichen Todes geſtorben, ſondern meine Mutter, die
mit dem fremden Manne buhlte, hat ihn in ein trüge¬
riſches Netz gewickelt und umgebracht; das Bad war der
Zeuge ſeines Mordes. Da bin ich nach langer Zeit,
der ich ſeitdem in der Verbannung gelebt, zurück gekom¬
men ins Vaterland, und habe den Vater gerächt, und,
ich läugne es nicht, habe des geliebten Vaters Mord
mit Mord an der Mutter gerächt. Und zu dieſer That
hat dein eigener Bruder Apollo mich aufgemuntert und
ſein Orakel hat mir mit großer Seelenqual gedroht, wenn
ich die Mörder meines Vaters nicht beſtrafte. Nun ſollſt
du Schiedsrichterin ſeyn, o Göttin, ob ich mit Recht oder
Unrecht gehandelt. Auch ich unterwerfe mich deinem
Richterſpruch!“

Die Göttin ſchwieg eine Weile nachdenklich; dann
ſprach ſie: „Die Sache, die entſchieden werden ſoll, iſt
freilich ſo dunkel, daß ein menſchliches Gericht nicht
damit fertig würde; darum, obwohl ich ſterbliche Richter
für ſie wählen will, iſt es doch gut, daß ihr euch mit
eurem Rechtsſtreit an eine Unſterbliche gewendet. Denn
ich ſelbſt will das Gericht verſammeln, in meinem Tempel
den Vorſitz führen und bei ſchwankendem Urtheile den
Ausſchlag geben. Inzwiſchen ſoll dieſer Fremdling unter
meinem Schirm unangetaſtet in unſrer Stadt leben. Ihr
aber, finſtre, unerbittliche Göttinnen! beflecket dieſen Bo¬
den nicht ohne Noth mit eurer Gegenwart. Gehet hinab
in eure unterirdiſche Behauſung und erſcheinet nicht eher
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[36/0058] memnon, der Völkerfürſt, der Führer der griechiſchen Flotte vor Troja, mit dem du ſelbſt Ilios herrliche Veſte zerſtöret haſt. Dieſer, nach Hauſe zurückgekehrt, iſt keines ehrlichen Todes geſtorben, ſondern meine Mutter, die mit dem fremden Manne buhlte, hat ihn in ein trüge¬ riſches Netz gewickelt und umgebracht; das Bad war der Zeuge ſeines Mordes. Da bin ich nach langer Zeit, der ich ſeitdem in der Verbannung gelebt, zurück gekom¬ men ins Vaterland, und habe den Vater gerächt, und, ich läugne es nicht, habe des geliebten Vaters Mord mit Mord an der Mutter gerächt. Und zu dieſer That hat dein eigener Bruder Apollo mich aufgemuntert und ſein Orakel hat mir mit großer Seelenqual gedroht, wenn ich die Mörder meines Vaters nicht beſtrafte. Nun ſollſt du Schiedsrichterin ſeyn, o Göttin, ob ich mit Recht oder Unrecht gehandelt. Auch ich unterwerfe mich deinem Richterſpruch!“ Die Göttin ſchwieg eine Weile nachdenklich; dann ſprach ſie: „Die Sache, die entſchieden werden ſoll, iſt freilich ſo dunkel, daß ein menſchliches Gericht nicht damit fertig würde; darum, obwohl ich ſterbliche Richter für ſie wählen will, iſt es doch gut, daß ihr euch mit eurem Rechtsſtreit an eine Unſterbliche gewendet. Denn ich ſelbſt will das Gericht verſammeln, in meinem Tempel den Vorſitz führen und bei ſchwankendem Urtheile den Ausſchlag geben. Inzwiſchen ſoll dieſer Fremdling unter meinem Schirm unangetaſtet in unſrer Stadt leben. Ihr aber, finſtre, unerbittliche Göttinnen! beflecket dieſen Bo¬ den nicht ohne Noth mit eurer Gegenwart. Gehet hinab in eure unterirdiſche Behauſung und erſcheinet nicht eher wieder in dieſem Tempel, bis der anberaumte Tag des

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/58>, abgerufen am 16.05.2024.