Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

den Gränzen der taurischen Halbinsel, in die Nachbar¬
schaft der Scythen, sich begeben hätte, wo Apollo's
Schwester Diana oder Artemis ein Heiligthum besitze.
Dort sollte er das Bildniß der Göttin, das nach der
Sage dieses Barbarenvolkes vom Himmel gefallen war
und daselbst verehrt wurde, durch List oder andere Mittel
rauben und, nach bestandenem Wagestück, dasselbe nach
Athen verpflanzen, denn die Göttin sehne sich nach mil¬
derem Himmelsstriche und griechischen Anbetern, und
ihr gefalle das Barbarenland nicht mehr. Wäre dieses
glücklich vollführt, so solle der landesflüchtige Jüngling
am Ziele seiner Noth stehen.

Pylades verließ seinen Freund auch auf dieser rau¬
hen Wanderung nach einem gefahrvollen Ziele nicht.
Denn das Volk der Taurier war ein wilder Menschen¬
stamm, der die an seiner Hufe Gestrandeten und andere
Fremde der Jungfrau Artemis zu opfern pflegte. Den
gefangenen Feinden hieben sie den Kopf ab, steckten ihn
an einer Stange über den Rauchfang ihrer Hütten, und
bestellten ihn so zum Wächter ihres Hauses, der Alles
von der Höhe herab für sie überschauen sollte.

Die Ursache, warum das Orakel den Orestes in
dieses wilde Land unter den grausamen Völkerstamm
sandte, war aber diese. Als Agamemnons und Klytäm¬
nestra's Tochter auf Anrathen des griechischen Sehers
Kalchas, im Angesichte der Griechen, am Strande von
Aulis geopfert werden sollte, und der Todesstreich ge¬
fallen war, der eine Hindin anstatt der Jungfrau ge¬
troffen hatte,*) da stahl die erbarmungsvolle Göttin

*) B. II. S. 44.

den Gränzen der tauriſchen Halbinſel, in die Nachbar¬
ſchaft der Scythen, ſich begeben hätte, wo Apollo's
Schweſter Diana oder Artemis ein Heiligthum beſitze.
Dort ſollte er das Bildniß der Göttin, das nach der
Sage dieſes Barbarenvolkes vom Himmel gefallen war
und daſelbſt verehrt wurde, durch Liſt oder andere Mittel
rauben und, nach beſtandenem Wageſtück, daſſelbe nach
Athen verpflanzen, denn die Göttin ſehne ſich nach mil¬
derem Himmelsſtriche und griechiſchen Anbetern, und
ihr gefalle das Barbarenland nicht mehr. Wäre dieſes
glücklich vollführt, ſo ſolle der landesflüchtige Jüngling
am Ziele ſeiner Noth ſtehen.

Pylades verließ ſeinen Freund auch auf dieſer rau¬
hen Wanderung nach einem gefahrvollen Ziele nicht.
Denn das Volk der Taurier war ein wilder Menſchen¬
ſtamm, der die an ſeiner Hufe Geſtrandeten und andere
Fremde der Jungfrau Artemis zu opfern pflegte. Den
gefangenen Feinden hieben ſie den Kopf ab, ſteckten ihn
an einer Stange über den Rauchfang ihrer Hütten, und
beſtellten ihn ſo zum Wächter ihres Hauſes, der Alles
von der Höhe herab für ſie überſchauen ſollte.

Die Urſache, warum das Orakel den Oreſtes in
dieſes wilde Land unter den grauſamen Völkerſtamm
ſandte, war aber dieſe. Als Agamemnons und Klytäm¬
neſtra's Tochter auf Anrathen des griechiſchen Sehers
Kalchas, im Angeſichte der Griechen, am Strande von
Aulis geopfert werden ſollte, und der Todesſtreich ge¬
fallen war, der eine Hindin anſtatt der Jungfrau ge¬
troffen hatte,*) da ſtahl die erbarmungsvolle Göttin

*) B. II. S. 44.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0066" n="44"/>
den Gränzen der tauri&#x017F;chen Halbin&#x017F;el, in die Nachbar¬<lb/>
&#x017F;chaft der Scythen, &#x017F;ich begeben hätte, wo Apollo's<lb/>
Schwe&#x017F;ter Diana oder Artemis ein Heiligthum be&#x017F;itze.<lb/>
Dort &#x017F;ollte er das Bildniß der Göttin, das nach der<lb/>
Sage die&#x017F;es Barbarenvolkes vom Himmel gefallen war<lb/>
und da&#x017F;elb&#x017F;t verehrt wurde, durch Li&#x017F;t oder andere Mittel<lb/>
rauben und, nach be&#x017F;tandenem Wage&#x017F;tück, da&#x017F;&#x017F;elbe nach<lb/>
Athen verpflanzen, denn die Göttin &#x017F;ehne &#x017F;ich nach mil¬<lb/>
derem Himmels&#x017F;triche und griechi&#x017F;chen Anbetern, und<lb/>
ihr gefalle das Barbarenland nicht mehr. Wäre die&#x017F;es<lb/>
glücklich vollführt, &#x017F;o &#x017F;olle der landesflüchtige Jüngling<lb/>
am Ziele &#x017F;einer Noth &#x017F;tehen.</p><lb/>
            <p>Pylades verließ &#x017F;einen Freund auch auf die&#x017F;er rau¬<lb/>
hen Wanderung nach einem gefahrvollen Ziele nicht.<lb/>
Denn das Volk der Taurier war ein wilder Men&#x017F;chen¬<lb/>
&#x017F;tamm, der die an &#x017F;einer Hufe Ge&#x017F;trandeten und andere<lb/>
Fremde der Jungfrau Artemis zu opfern pflegte. Den<lb/>
gefangenen Feinden hieben &#x017F;ie den Kopf ab, &#x017F;teckten ihn<lb/>
an einer Stange über den Rauchfang ihrer Hütten, und<lb/>
be&#x017F;tellten ihn &#x017F;o zum Wächter ihres Hau&#x017F;es, der Alles<lb/>
von der Höhe herab für &#x017F;ie über&#x017F;chauen &#x017F;ollte.</p><lb/>
            <p>Die Ur&#x017F;ache, warum das Orakel den Ore&#x017F;tes in<lb/>
die&#x017F;es wilde Land unter den grau&#x017F;amen Völker&#x017F;tamm<lb/>
&#x017F;andte, war aber die&#x017F;e. Als Agamemnons und Klytäm¬<lb/>
ne&#x017F;tra's Tochter auf Anrathen des griechi&#x017F;chen Sehers<lb/>
Kalchas, im Ange&#x017F;ichte der Griechen, am Strande von<lb/>
Aulis geopfert werden &#x017F;ollte, und der Todes&#x017F;treich ge¬<lb/>
fallen war, der eine Hindin an&#x017F;tatt der Jungfrau ge¬<lb/>
troffen hatte,<note place="foot" n="*)"><lb/>
B. <hi rendition="#aq">II</hi>. S. 44.</note> da &#x017F;tahl die erbarmungsvolle Göttin<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[44/0066] den Gränzen der tauriſchen Halbinſel, in die Nachbar¬ ſchaft der Scythen, ſich begeben hätte, wo Apollo's Schweſter Diana oder Artemis ein Heiligthum beſitze. Dort ſollte er das Bildniß der Göttin, das nach der Sage dieſes Barbarenvolkes vom Himmel gefallen war und daſelbſt verehrt wurde, durch Liſt oder andere Mittel rauben und, nach beſtandenem Wageſtück, daſſelbe nach Athen verpflanzen, denn die Göttin ſehne ſich nach mil¬ derem Himmelsſtriche und griechiſchen Anbetern, und ihr gefalle das Barbarenland nicht mehr. Wäre dieſes glücklich vollführt, ſo ſolle der landesflüchtige Jüngling am Ziele ſeiner Noth ſtehen. Pylades verließ ſeinen Freund auch auf dieſer rau¬ hen Wanderung nach einem gefahrvollen Ziele nicht. Denn das Volk der Taurier war ein wilder Menſchen¬ ſtamm, der die an ſeiner Hufe Geſtrandeten und andere Fremde der Jungfrau Artemis zu opfern pflegte. Den gefangenen Feinden hieben ſie den Kopf ab, ſteckten ihn an einer Stange über den Rauchfang ihrer Hütten, und beſtellten ihn ſo zum Wächter ihres Hauſes, der Alles von der Höhe herab für ſie überſchauen ſollte. Die Urſache, warum das Orakel den Oreſtes in dieſes wilde Land unter den grauſamen Völkerſtamm ſandte, war aber dieſe. Als Agamemnons und Klytäm¬ neſtra's Tochter auf Anrathen des griechiſchen Sehers Kalchas, im Angeſichte der Griechen, am Strande von Aulis geopfert werden ſollte, und der Todesſtreich ge¬ fallen war, der eine Hindin anſtatt der Jungfrau ge¬ troffen hatte, *) da ſtahl die erbarmungsvolle Göttin *) B. II. S. 44.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/66
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/66>, abgerufen am 24.11.2024.