Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

Orestes, ich händige dir das Schreiben ein, welches die
Schwester Iphigenie dir überschickt." Orestes warf es
auf den Boden und umschlang die Wiedergefundene mit
den Armen. Sie wollte ihm wehren, sie konnte es nicht
glauben, bis Erzählungen aus der innersten Geschichte
des Atridenhauses ihn ihr als denjenigen beglaubigten,
der er von Pylades bezeichnet ward. "O Geliebtester,"
rief die Jungfrau jetzt, "denn das bist du und nichts
Anderes, du der Meine, der Meine, der Einzige, der
Bruder! Aus dem geliebten Argos kommend! Wie ju¬
gendlich zart warest du, als ich dich verließ, im Arme
des Pflegers ruhend, sorglos und glücklich! Ja, glück¬
lich, wie wir beide in diesem Augenblick es sind." --
Doch Orestes war schon zur Besinnung gekommen und
sein Antlitz hatte sich umwölkt. "Freilich sind wir jetzt
glücklich," sprach er, "aber wie lange wird es währen?
Ist nicht der Jammer, der Untergang uns gewiß?"
Auch Iphigenia bedachte sich voll Unruhe: "Was ersinne
ich nun," sagte sie bebend, "wie erlöse ich dich aus dem
Reiche des Barbarenfürsten, wie sende ich dich frei vom Tode
nach Argos zurück, daß du nicht mit samt deinem Freunde
am Opferheerde dem Stahl erliegen mußt? Aber schnell,
ehe der Herr dieses Reiches, ungeduldig über den ver¬
zögerten Tod der Gefangenen, erscheint, erzähle mir,
Bruder, und verschweige mir nichts von den entsetzlichen
Ereignissen in unsrem unglücklichen Hause."

Orestes meldete ihr mit gedrängten Worten Alles,
wie es sich begeben, und schloß das Fürchterliche mit
einer guten Kunde, mit der Verlobung Elektra's und
seines Freundes. Während der Erzählung hatte sich die
Jungfrau, so ganz sie Ohr war, doch auch mit der

Oreſtes, ich händige dir das Schreiben ein, welches die
Schweſter Iphigenie dir überſchickt.“ Oreſtes warf es
auf den Boden und umſchlang die Wiedergefundene mit
den Armen. Sie wollte ihm wehren, ſie konnte es nicht
glauben, bis Erzählungen aus der innerſten Geſchichte
des Atridenhauſes ihn ihr als denjenigen beglaubigten,
der er von Pylades bezeichnet ward. „O Geliebteſter,“
rief die Jungfrau jetzt, „denn das biſt du und nichts
Anderes, du der Meine, der Meine, der Einzige, der
Bruder! Aus dem geliebten Argos kommend! Wie ju¬
gendlich zart wareſt du, als ich dich verließ, im Arme
des Pflegers ruhend, ſorglos und glücklich! Ja, glück¬
lich, wie wir beide in dieſem Augenblick es ſind.“ —
Doch Oreſtes war ſchon zur Beſinnung gekommen und
ſein Antlitz hatte ſich umwölkt. „Freilich ſind wir jetzt
glücklich,“ ſprach er, „aber wie lange wird es währen?
Iſt nicht der Jammer, der Untergang uns gewiß?“
Auch Iphigenia bedachte ſich voll Unruhe: „Was erſinne
ich nun,“ ſagte ſie bebend, „wie erlöſe ich dich aus dem
Reiche des Barbarenfürſten, wie ſende ich dich frei vom Tode
nach Argos zurück, daß du nicht mit ſamt deinem Freunde
am Opferheerde dem Stahl erliegen mußt? Aber ſchnell,
ehe der Herr dieſes Reiches, ungeduldig über den ver¬
zögerten Tod der Gefangenen, erſcheint, erzähle mir,
Bruder, und verſchweige mir nichts von den entſetzlichen
Ereigniſſen in unſrem unglücklichen Hauſe.“

Oreſtes meldete ihr mit gedrängten Worten Alles,
wie es ſich begeben, und ſchloß das Fürchterliche mit
einer guten Kunde, mit der Verlobung Elektra's und
ſeines Freundes. Während der Erzählung hatte ſich die
Jungfrau, ſo ganz ſie Ohr war, doch auch mit der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0077" n="55"/>
Ore&#x017F;tes, ich händige dir das Schreiben ein, welches die<lb/>
Schwe&#x017F;ter Iphigenie dir über&#x017F;chickt.&#x201C; Ore&#x017F;tes warf es<lb/>
auf den Boden und um&#x017F;chlang die Wiedergefundene mit<lb/>
den Armen. Sie wollte ihm wehren, &#x017F;ie konnte es nicht<lb/>
glauben, bis Erzählungen aus der inner&#x017F;ten Ge&#x017F;chichte<lb/>
des Atridenhau&#x017F;es ihn ihr als denjenigen beglaubigten,<lb/>
der er von Pylades bezeichnet ward. &#x201E;O Geliebte&#x017F;ter,&#x201C;<lb/>
rief die Jungfrau jetzt, &#x201E;denn das bi&#x017F;t du und nichts<lb/>
Anderes, du der Meine, der Meine, der Einzige, der<lb/>
Bruder! Aus dem geliebten Argos kommend! Wie ju¬<lb/>
gendlich zart ware&#x017F;t du, als ich dich verließ, im Arme<lb/>
des Pflegers ruhend, &#x017F;orglos und glücklich! Ja, glück¬<lb/>
lich, wie wir beide in die&#x017F;em Augenblick es &#x017F;ind.&#x201C; &#x2014;<lb/>
Doch Ore&#x017F;tes war &#x017F;chon zur Be&#x017F;innung gekommen und<lb/>
&#x017F;ein Antlitz hatte &#x017F;ich umwölkt. &#x201E;Freilich &#x017F;ind wir jetzt<lb/>
glücklich,&#x201C; &#x017F;prach er, &#x201E;aber wie lange wird es währen?<lb/>
I&#x017F;t nicht der Jammer, der Untergang uns gewiß?&#x201C;<lb/>
Auch Iphigenia bedachte &#x017F;ich voll Unruhe: &#x201E;Was er&#x017F;inne<lb/>
ich nun,&#x201C; &#x017F;agte &#x017F;ie bebend, &#x201E;wie erlö&#x017F;e ich dich aus dem<lb/>
Reiche des Barbarenfür&#x017F;ten, wie &#x017F;ende ich dich frei vom Tode<lb/>
nach Argos zurück, daß du nicht mit &#x017F;amt deinem Freunde<lb/>
am Opferheerde dem Stahl erliegen mußt? Aber &#x017F;chnell,<lb/>
ehe der Herr die&#x017F;es Reiches, ungeduldig über den ver¬<lb/>
zögerten Tod der Gefangenen, er&#x017F;cheint, erzähle mir,<lb/>
Bruder, und ver&#x017F;chweige mir nichts von den ent&#x017F;etzlichen<lb/>
Ereigni&#x017F;&#x017F;en in un&#x017F;rem unglücklichen Hau&#x017F;e.&#x201C;</p><lb/>
            <p>Ore&#x017F;tes meldete ihr mit gedrängten Worten Alles,<lb/>
wie es &#x017F;ich begeben, und &#x017F;chloß das Fürchterliche mit<lb/>
einer guten Kunde, mit der Verlobung Elektra's und<lb/>
&#x017F;eines Freundes. Während der Erzählung hatte &#x017F;ich die<lb/>
Jungfrau, &#x017F;o ganz &#x017F;ie Ohr war, doch auch mit der<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[55/0077] Oreſtes, ich händige dir das Schreiben ein, welches die Schweſter Iphigenie dir überſchickt.“ Oreſtes warf es auf den Boden und umſchlang die Wiedergefundene mit den Armen. Sie wollte ihm wehren, ſie konnte es nicht glauben, bis Erzählungen aus der innerſten Geſchichte des Atridenhauſes ihn ihr als denjenigen beglaubigten, der er von Pylades bezeichnet ward. „O Geliebteſter,“ rief die Jungfrau jetzt, „denn das biſt du und nichts Anderes, du der Meine, der Meine, der Einzige, der Bruder! Aus dem geliebten Argos kommend! Wie ju¬ gendlich zart wareſt du, als ich dich verließ, im Arme des Pflegers ruhend, ſorglos und glücklich! Ja, glück¬ lich, wie wir beide in dieſem Augenblick es ſind.“ — Doch Oreſtes war ſchon zur Beſinnung gekommen und ſein Antlitz hatte ſich umwölkt. „Freilich ſind wir jetzt glücklich,“ ſprach er, „aber wie lange wird es währen? Iſt nicht der Jammer, der Untergang uns gewiß?“ Auch Iphigenia bedachte ſich voll Unruhe: „Was erſinne ich nun,“ ſagte ſie bebend, „wie erlöſe ich dich aus dem Reiche des Barbarenfürſten, wie ſende ich dich frei vom Tode nach Argos zurück, daß du nicht mit ſamt deinem Freunde am Opferheerde dem Stahl erliegen mußt? Aber ſchnell, ehe der Herr dieſes Reiches, ungeduldig über den ver¬ zögerten Tod der Gefangenen, erſcheint, erzähle mir, Bruder, und verſchweige mir nichts von den entſetzlichen Ereigniſſen in unſrem unglücklichen Hauſe.“ Oreſtes meldete ihr mit gedrängten Worten Alles, wie es ſich begeben, und ſchloß das Fürchterliche mit einer guten Kunde, mit der Verlobung Elektra's und ſeines Freundes. Während der Erzählung hatte ſich die Jungfrau, ſo ganz ſie Ohr war, doch auch mit der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/77
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/77>, abgerufen am 24.11.2024.