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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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darauf erschien Thoas, der König des Landes mit einem
ansehnlichen Gefolge und fragte nach der Tempelwächterin,
denn der Verzug gefiel ihm nicht, und er konnte nicht
begreifen, warum die Leiber der Fremdlinge nicht schon
lange auf den Hochaltären der Göttin brannten. Wie
er nun eben vor dem Tempel angekommen war, trat
Iphigenia zu den Pforten desselben heraus und trug die
Bildsäule der Göttin auf den Armen. "Was ist das,
Agamemnons Tochter," rief der König erstaunt, "warum
trägst du dieses Götterbild von dem heiligen Gestelle in
deinen Armen fort?" -- "Es ist Abscheuliches geschehen,
o Fürst!" erwiederte die Priesterin mit bewegter Miene,
"die Opfer, die am Strande erjagt worden, sind nicht
rein; das Standbild der Göttin, als sie sich ihm näher¬
ten, es schutzflehend zu umfangen, drehte sich freiwillig
auf seinem Sitze und schloß die Augenlieder. Wisse,
dieses Paar hat Grausenhaftes verübt." Und nun er¬
zählte sie dem Könige, was im Wesentlichen Wahrheit
war, und stellte das Verlangen an ihn, die Fremdlinge
samt dem Bilde entsündigen zu dürfen. Um ihn recht
sicher zu machen, verlangte sie, daß die Fremden wieder
gefesselt würden, und ihre Häupter als Frevler vor dem
Strahl der Sonne verhüllt; auch begehrte sie Sklaven
zur Sicherheit, die im Gefolge des Königs erschienen
waren. Nach der Stadt -- auch dieß hatte die Jung¬
frau schlau in ihrem Sinne ausgedacht -- sollte der
Fürst einen Boten senden, der den Bürgern befehle, sich,
bis die Entsündigung vorüber sey, innerhalb der Mauern
zu halten, um von der alles verpestenden Blutschuld nicht
angesteckt zu werden. Der König selbst sollte in ihrer
Abwesenheit im Tempel bleiben, und für die Ausräucherung

darauf erſchien Thoas, der König des Landes mit einem
anſehnlichen Gefolge und fragte nach der Tempelwächterin,
denn der Verzug gefiel ihm nicht, und er konnte nicht
begreifen, warum die Leiber der Fremdlinge nicht ſchon
lange auf den Hochaltären der Göttin brannten. Wie
er nun eben vor dem Tempel angekommen war, trat
Iphigenia zu den Pforten deſſelben heraus und trug die
Bildſäule der Göttin auf den Armen. „Was iſt das,
Agamemnons Tochter,“ rief der König erſtaunt, „warum
trägſt du dieſes Götterbild von dem heiligen Geſtelle in
deinen Armen fort?“ — „Es iſt Abſcheuliches geſchehen,
o Fürſt!“ erwiederte die Prieſterin mit bewegter Miene,
„die Opfer, die am Strande erjagt worden, ſind nicht
rein; das Standbild der Göttin, als ſie ſich ihm näher¬
ten, es ſchutzflehend zu umfangen, drehte ſich freiwillig
auf ſeinem Sitze und ſchloß die Augenlieder. Wiſſe,
dieſes Paar hat Grauſenhaftes verübt.“ Und nun er¬
zählte ſie dem Könige, was im Weſentlichen Wahrheit
war, und ſtellte das Verlangen an ihn, die Fremdlinge
ſamt dem Bilde entſündigen zu dürfen. Um ihn recht
ſicher zu machen, verlangte ſie, daß die Fremden wieder
gefeſſelt würden, und ihre Häupter als Frevler vor dem
Strahl der Sonne verhüllt; auch begehrte ſie Sklaven
zur Sicherheit, die im Gefolge des Königs erſchienen
waren. Nach der Stadt — auch dieß hatte die Jung¬
frau ſchlau in ihrem Sinne ausgedacht — ſollte der
Fürſt einen Boten ſenden, der den Bürgern befehle, ſich,
bis die Entſündigung vorüber ſey, innerhalb der Mauern
zu halten, um von der alles verpeſtenden Blutſchuld nicht
angeſteckt zu werden. Der König ſelbſt ſollte in ihrer
Abweſenheit im Tempel bleiben, und für die Ausräucherung

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[57/0079] darauf erſchien Thoas, der König des Landes mit einem anſehnlichen Gefolge und fragte nach der Tempelwächterin, denn der Verzug gefiel ihm nicht, und er konnte nicht begreifen, warum die Leiber der Fremdlinge nicht ſchon lange auf den Hochaltären der Göttin brannten. Wie er nun eben vor dem Tempel angekommen war, trat Iphigenia zu den Pforten deſſelben heraus und trug die Bildſäule der Göttin auf den Armen. „Was iſt das, Agamemnons Tochter,“ rief der König erſtaunt, „warum trägſt du dieſes Götterbild von dem heiligen Geſtelle in deinen Armen fort?“ — „Es iſt Abſcheuliches geſchehen, o Fürſt!“ erwiederte die Prieſterin mit bewegter Miene, „die Opfer, die am Strande erjagt worden, ſind nicht rein; das Standbild der Göttin, als ſie ſich ihm näher¬ ten, es ſchutzflehend zu umfangen, drehte ſich freiwillig auf ſeinem Sitze und ſchloß die Augenlieder. Wiſſe, dieſes Paar hat Grauſenhaftes verübt.“ Und nun er¬ zählte ſie dem Könige, was im Weſentlichen Wahrheit war, und ſtellte das Verlangen an ihn, die Fremdlinge ſamt dem Bilde entſündigen zu dürfen. Um ihn recht ſicher zu machen, verlangte ſie, daß die Fremden wieder gefeſſelt würden, und ihre Häupter als Frevler vor dem Strahl der Sonne verhüllt; auch begehrte ſie Sklaven zur Sicherheit, die im Gefolge des Königs erſchienen waren. Nach der Stadt — auch dieß hatte die Jung¬ frau ſchlau in ihrem Sinne ausgedacht — ſollte der Fürſt einen Boten ſenden, der den Bürgern befehle, ſich, bis die Entſündigung vorüber ſey, innerhalb der Mauern zu halten, um von der alles verpeſtenden Blutſchuld nicht angeſteckt zu werden. Der König ſelbſt ſollte in ihrer Abweſenheit im Tempel bleiben, und für die Ausräucherung

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/79>, abgerufen am 16.05.2024.