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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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des gesammten Gewölbes besorgt seyn, damit die Prie¬
sterin dasselbe nach ihrer Rückkehr gereinigt wieder¬
finde. Sobald die Fremden aus dem Thore des Tem¬
pels träten, sollte der König sein Antlitz ins Gewand
hüllen, damit der Gräuel sich ihm nicht mittheilen könnte.
"Und wenn es dir," schloß die Priesterin ihren Antrag,
"auch dünken sollte, als säumte ich lang am Meeres¬
strande: werde darum nicht ungeduldig, o Herrscher;
bedenke, welchen großen und besteckenden Frevel es zu
entsündigen gilt!"

Der König willigte in Alles und verhüllte sich das
Haupt, als bald darauf Orestes und Pylades aus dem
Tempel geführt wurden, und es währte nicht lange, so
war Iphigenia mit den Gefangenen und einigen Tra¬
banten des Königes auf dem Wege zum Meeresufer aus
dem Gesichtskreise des Tempels verschwunden. Thoas
begab sich in das Innere desselben, und ließ dort die von
der Priesterin gebotene Räucherung vornehmen, die bei
der Größe des Gebäudes eine geraume Zeit erforderte.

Nach mehreren Stunden kam ein Bote vom Meeres¬
ufer daher geeilt. "Treulose Weiberseelen!" fluchte er
vor sich hin, als er erhitzt und keuchend vor der Tempel¬
pforte stand und an das verschlossene Thor pochte.
"Holla, ihr, Leute drinnen," schrie er, "öffnet die Rie¬
gel; thut dem Herrn zu wissen, daß ich als Ueberbringer
schlimmer Neuigkeit vor dem Thore stehe!" Die Thür¬
flügel öffneten sich, und Thoas selbst trat aus dem Tempel.
"Wer ist's," sprach er, "der mit seinem Lärm den Frieden
dieses heiligen Hauses zu stören sich herausnimmt?" --
"Vernimm, o König, welche Botschaft ich dir bringe,"
hub der Diener an. "Die Priesterin des Tempels,

des geſammten Gewölbes beſorgt ſeyn, damit die Prie¬
ſterin daſſelbe nach ihrer Rückkehr gereinigt wieder¬
finde. Sobald die Fremden aus dem Thore des Tem¬
pels träten, ſollte der König ſein Antlitz ins Gewand
hüllen, damit der Gräuel ſich ihm nicht mittheilen könnte.
„Und wenn es dir,“ ſchloß die Prieſterin ihren Antrag,
„auch dünken ſollte, als ſäumte ich lang am Meeres¬
ſtrande: werde darum nicht ungeduldig, o Herrſcher;
bedenke, welchen großen und beſteckenden Frevel es zu
entſündigen gilt!“

Der König willigte in Alles und verhüllte ſich das
Haupt, als bald darauf Oreſtes und Pylades aus dem
Tempel geführt wurden, und es währte nicht lange, ſo
war Iphigenia mit den Gefangenen und einigen Tra¬
banten des Königes auf dem Wege zum Meeresufer aus
dem Geſichtskreiſe des Tempels verſchwunden. Thoas
begab ſich in das Innere deſſelben, und ließ dort die von
der Prieſterin gebotene Räucherung vornehmen, die bei
der Größe des Gebäudes eine geraume Zeit erforderte.

Nach mehreren Stunden kam ein Bote vom Meeres¬
ufer daher geeilt. „Treuloſe Weiberſeelen!“ fluchte er
vor ſich hin, als er erhitzt und keuchend vor der Tempel¬
pforte ſtand und an das verſchloſſene Thor pochte.
„Holla, ihr, Leute drinnen,“ ſchrie er, „öffnet die Rie¬
gel; thut dem Herrn zu wiſſen, daß ich als Ueberbringer
ſchlimmer Neuigkeit vor dem Thore ſtehe!“ Die Thür¬
flügel öffneten ſich, und Thoas ſelbſt trat aus dem Tempel.
„Wer iſt's,“ ſprach er, „der mit ſeinem Lärm den Frieden
dieſes heiligen Hauſes zu ſtören ſich herausnimmt?“ —
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[58/0080] des geſammten Gewölbes beſorgt ſeyn, damit die Prie¬ ſterin daſſelbe nach ihrer Rückkehr gereinigt wieder¬ finde. Sobald die Fremden aus dem Thore des Tem¬ pels träten, ſollte der König ſein Antlitz ins Gewand hüllen, damit der Gräuel ſich ihm nicht mittheilen könnte. „Und wenn es dir,“ ſchloß die Prieſterin ihren Antrag, „auch dünken ſollte, als ſäumte ich lang am Meeres¬ ſtrande: werde darum nicht ungeduldig, o Herrſcher; bedenke, welchen großen und beſteckenden Frevel es zu entſündigen gilt!“ Der König willigte in Alles und verhüllte ſich das Haupt, als bald darauf Oreſtes und Pylades aus dem Tempel geführt wurden, und es währte nicht lange, ſo war Iphigenia mit den Gefangenen und einigen Tra¬ banten des Königes auf dem Wege zum Meeresufer aus dem Geſichtskreiſe des Tempels verſchwunden. Thoas begab ſich in das Innere deſſelben, und ließ dort die von der Prieſterin gebotene Räucherung vornehmen, die bei der Größe des Gebäudes eine geraume Zeit erforderte. Nach mehreren Stunden kam ein Bote vom Meeres¬ ufer daher geeilt. „Treuloſe Weiberſeelen!“ fluchte er vor ſich hin, als er erhitzt und keuchend vor der Tempel¬ pforte ſtand und an das verſchloſſene Thor pochte. „Holla, ihr, Leute drinnen,“ ſchrie er, „öffnet die Rie¬ gel; thut dem Herrn zu wiſſen, daß ich als Ueberbringer ſchlimmer Neuigkeit vor dem Thore ſtehe!“ Die Thür¬ flügel öffneten ſich, und Thoas ſelbſt trat aus dem Tempel. „Wer iſt's,“ ſprach er, „der mit ſeinem Lärm den Frieden dieſes heiligen Hauſes zu ſtören ſich herausnimmt?“ — „Vernimm, o König, welche Botſchaft ich dir bringe,“ hub der Diener an. „Die Prieſterin des Tempels,

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/80>, abgerufen am 24.11.2024.