dieses Griechenweib, ist mitsamt den Fremden und dem Standbild unserer erhabenen Schutzgöttin aus dem Lande entronnen! das ganze Entsündigungsfest war eine Lüge!" -- "Was sagst du?" rief der König, der Unmögliches zu hören glaubte. "Welcher böse Geist hat dieses Weib ergriffen? Wer ist es, mit dem sie flieht?" -- "Ihr Bruder Orestes," erwiederte der Bote, "derselbe, den sie hier dem Opfertode geweiht zu haben schien. Hör' die ganze Geschichte, und dann sinne auf Mittel, wie wir die Flüchtigen verfolgen und beifahen, denn ihre Fahrt ist lang und dein Speer kann sie schon noch er¬ reichen! Als wir ans Gestade des Oceans gelangt waren, wo das Schiff des Orestes vor Anker lag, winkte Iphigenia uns, die wir die Fremdlinge in Fesseln daher¬ führten, Halt zu machen, damit wir dem heiligen Brand¬ opfer und der beschlossenen Feier fern blieben. Sie selbst nahm den Fremden die Fesseln ab, hieß sie vorangehen, und trug sie, ihnen folgend. Zwar schien uns dieses schon etwas verdächtig, indessen glaubten deine Diener, o Herr, es sich doch gefallen lassen zu müssen. Hierauf, damit es schien, als würde mit der Sühnungshandlung wirklich der Anfang gemacht, sang die Priesterin Zauber¬ formeln ab, und sprach in fremden Weisen allerlei Gebete. Wir aber hatten uns gelagert und harrten. Endlich kam uns der Gedanke, das entfesselte Paar könnte die wehrlose Frau getödtet haben und entsprungen seyn. Wir machten uns daher auf, und eilten der Felsenbucht zu, die uns den Anblick der Priesterin und der Fremdlinge entzogen hatte. Als wir dicht an den Felsenstrand ge¬ langt waren, sahen wir ein Griechenschiff auf dem Was¬ serspiegel schwebend, und an fünfzig Ruderer auf seinen
dieſes Griechenweib, iſt mitſamt den Fremden und dem Standbild unſerer erhabenen Schutzgöttin aus dem Lande entronnen! das ganze Entſündigungsfeſt war eine Lüge!“ — „Was ſagſt du?“ rief der König, der Unmögliches zu hören glaubte. „Welcher böſe Geiſt hat dieſes Weib ergriffen? Wer iſt es, mit dem ſie flieht?“ — „Ihr Bruder Oreſtes,“ erwiederte der Bote, „derſelbe, den ſie hier dem Opfertode geweiht zu haben ſchien. Hör' die ganze Geſchichte, und dann ſinne auf Mittel, wie wir die Flüchtigen verfolgen und beifahen, denn ihre Fahrt iſt lang und dein Speer kann ſie ſchon noch er¬ reichen! Als wir ans Geſtade des Oceans gelangt waren, wo das Schiff des Oreſtes vor Anker lag, winkte Iphigenia uns, die wir die Fremdlinge in Feſſeln daher¬ führten, Halt zu machen, damit wir dem heiligen Brand¬ opfer und der beſchloſſenen Feier fern blieben. Sie ſelbſt nahm den Fremden die Feſſeln ab, hieß ſie vorangehen, und trug ſie, ihnen folgend. Zwar ſchien uns dieſes ſchon etwas verdächtig, indeſſen glaubten deine Diener, o Herr, es ſich doch gefallen laſſen zu müſſen. Hierauf, damit es ſchien, als würde mit der Sühnungshandlung wirklich der Anfang gemacht, ſang die Prieſterin Zauber¬ formeln ab, und ſprach in fremden Weiſen allerlei Gebete. Wir aber hatten uns gelagert und harrten. Endlich kam uns der Gedanke, das entfeſſelte Paar könnte die wehrloſe Frau getödtet haben und entſprungen ſeyn. Wir machten uns daher auf, und eilten der Felſenbucht zu, die uns den Anblick der Prieſterin und der Fremdlinge entzogen hatte. Als wir dicht an den Felſenſtrand ge¬ langt waren, ſahen wir ein Griechenſchiff auf dem Waſ¬ ſerſpiegel ſchwebend, und an fünfzig Ruderer auf ſeinen
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dieſes Griechenweib, iſt mitſamt den Fremden und dem
Standbild unſerer erhabenen Schutzgöttin aus dem Lande
entronnen! das ganze Entſündigungsfeſt war eine Lüge!“
— „Was ſagſt du?“ rief der König, der Unmögliches
zu hören glaubte. „Welcher böſe Geiſt hat dieſes Weib
ergriffen? Wer iſt es, mit dem ſie flieht?“ — „Ihr
Bruder Oreſtes,“ erwiederte der Bote, „derſelbe, den ſie
hier dem Opfertode geweiht zu haben ſchien. Hör' die
ganze Geſchichte, und dann ſinne auf Mittel, wie
wir die Flüchtigen verfolgen und beifahen, denn ihre
Fahrt iſt lang und dein Speer kann ſie ſchon noch er¬
reichen! Als wir ans Geſtade des Oceans gelangt
waren, wo das Schiff des Oreſtes vor Anker lag, winkte
Iphigenia uns, die wir die Fremdlinge in Feſſeln daher¬
führten, Halt zu machen, damit wir dem heiligen Brand¬
opfer und der beſchloſſenen Feier fern blieben. Sie ſelbſt
nahm den Fremden die Feſſeln ab, hieß ſie vorangehen,
und trug ſie, ihnen folgend. Zwar ſchien uns dieſes
ſchon etwas verdächtig, indeſſen glaubten deine Diener,
o Herr, es ſich doch gefallen laſſen zu müſſen. Hierauf,
damit es ſchien, als würde mit der Sühnungshandlung
wirklich der Anfang gemacht, ſang die Prieſterin Zauber¬
formeln ab, und ſprach in fremden Weiſen allerlei Gebete.
Wir aber hatten uns gelagert und harrten. Endlich
kam uns der Gedanke, das entfeſſelte Paar könnte die
wehrloſe Frau getödtet haben und entſprungen ſeyn. Wir
machten uns daher auf, und eilten der Felſenbucht zu,
die uns den Anblick der Prieſterin und der Fremdlinge
entzogen hatte. Als wir dicht an den Felſenſtrand ge¬
langt waren, ſahen wir ein Griechenſchiff auf dem Waſ¬
ſerſpiegel ſchwebend, und an fünfzig Ruderer auf ſeinen
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/81>, abgerufen am 24.11.2024.
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