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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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Bänken; am Hintertheile des Schiffes, noch auf dem
Ufer, standen die beiden Fremden, der Fesseln entledigt;
die Einen lichteten die Anker und hängten sie ein, Andere
schlugen Zugbrücken, wanden an den Tauen, ließen Lei¬
tern für die Fremdlinge nieder. Da besannen wir uns
denn freilich nicht länger; wir hatten das ganze Trug¬
gewebe vor uns, und ergriffen das Weib, das auch noch
am Strande verweilte. Orestes aber, sein Geschlecht und
Vorhaben laut verkündend, wehrte sich mit Pylades für
seine Schwester, die wir schleifend zwingen wollten, uns
zu folgen. Da weder wir noch die Fremdlinge Schwer¬
ter hatten, so setzte es einen hartnäckigen Faustkampf.
Indessen zwangen uns die Griechenjünglinge zum Rück¬
zuge, da auch die Schützen vom Hintertheile des Schiffes
uns mit Pfeilen aus der Ferne scharf zusetzten. Zu
gleicher Zeit warf eine mächtige Meereswoge das Schiff
ans Land, und es fehlte wenig, so wäre es gescheitert.
Da nahm Orestes Iphigenien auf den Arm, die selbst
das Bild auf den Armen trug, sprang ins Wasser und
schnell die Leiter des Schiffes hinan. Dort legte er die
Schwester mit samt dem Himmelsbilde Dianens auf dem
Verdecke nieder. Ihm nach war Pylades gesprungen,
und als Alle glücklich im Schiffe sich befanden, brach
das Schiffsvolk in dumpfen Jubel aus, und ruderte frisch
durch die salzige Fluth. So lange das Schiff durch die
Hafenbucht fuhr, glitt es in sanftem Laufe dahin; als
es aber in die offene See gelangt war, sauste ein mäch¬
tiger Windstoß auf dasselbe herein und trieb es, trotz
aller Anstrengungen der Ruderer, an das Gestade zurück.
Da sprang Agamemnons Tochter flehend empor und
rief laut: "Tochter Latona's, jungfräuliche Artemis, du

Bänken; am Hintertheile des Schiffes, noch auf dem
Ufer, ſtanden die beiden Fremden, der Feſſeln entledigt;
die Einen lichteten die Anker und hängten ſie ein, Andere
ſchlugen Zugbrücken, wanden an den Tauen, ließen Lei¬
tern für die Fremdlinge nieder. Da beſannen wir uns
denn freilich nicht länger; wir hatten das ganze Trug¬
gewebe vor uns, und ergriffen das Weib, das auch noch
am Strande verweilte. Oreſtes aber, ſein Geſchlecht und
Vorhaben laut verkündend, wehrte ſich mit Pylades für
ſeine Schweſter, die wir ſchleifend zwingen wollten, uns
zu folgen. Da weder wir noch die Fremdlinge Schwer¬
ter hatten, ſo ſetzte es einen hartnäckigen Fauſtkampf.
Indeſſen zwangen uns die Griechenjünglinge zum Rück¬
zuge, da auch die Schützen vom Hintertheile des Schiffes
uns mit Pfeilen aus der Ferne ſcharf zuſetzten. Zu
gleicher Zeit warf eine mächtige Meereswoge das Schiff
ans Land, und es fehlte wenig, ſo wäre es geſcheitert.
Da nahm Oreſtes Iphigenien auf den Arm, die ſelbſt
das Bild auf den Armen trug, ſprang ins Waſſer und
ſchnell die Leiter des Schiffes hinan. Dort legte er die
Schweſter mit ſamt dem Himmelsbilde Dianens auf dem
Verdecke nieder. Ihm nach war Pylades geſprungen,
und als Alle glücklich im Schiffe ſich befanden, brach
das Schiffsvolk in dumpfen Jubel aus, und ruderte friſch
durch die ſalzige Fluth. So lange das Schiff durch die
Hafenbucht fuhr, glitt es in ſanftem Laufe dahin; als
es aber in die offene See gelangt war, ſauſte ein mäch¬
tiger Windſtoß auf daſſelbe herein und trieb es, trotz
aller Anſtrengungen der Ruderer, an das Geſtade zurück.
Da ſprang Agamemnons Tochter flehend empor und
rief laut: „Tochter Latona's, jungfräuliche Artemis, du

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[60/0082] Bänken; am Hintertheile des Schiffes, noch auf dem Ufer, ſtanden die beiden Fremden, der Feſſeln entledigt; die Einen lichteten die Anker und hängten ſie ein, Andere ſchlugen Zugbrücken, wanden an den Tauen, ließen Lei¬ tern für die Fremdlinge nieder. Da beſannen wir uns denn freilich nicht länger; wir hatten das ganze Trug¬ gewebe vor uns, und ergriffen das Weib, das auch noch am Strande verweilte. Oreſtes aber, ſein Geſchlecht und Vorhaben laut verkündend, wehrte ſich mit Pylades für ſeine Schweſter, die wir ſchleifend zwingen wollten, uns zu folgen. Da weder wir noch die Fremdlinge Schwer¬ ter hatten, ſo ſetzte es einen hartnäckigen Fauſtkampf. Indeſſen zwangen uns die Griechenjünglinge zum Rück¬ zuge, da auch die Schützen vom Hintertheile des Schiffes uns mit Pfeilen aus der Ferne ſcharf zuſetzten. Zu gleicher Zeit warf eine mächtige Meereswoge das Schiff ans Land, und es fehlte wenig, ſo wäre es geſcheitert. Da nahm Oreſtes Iphigenien auf den Arm, die ſelbſt das Bild auf den Armen trug, ſprang ins Waſſer und ſchnell die Leiter des Schiffes hinan. Dort legte er die Schweſter mit ſamt dem Himmelsbilde Dianens auf dem Verdecke nieder. Ihm nach war Pylades geſprungen, und als Alle glücklich im Schiffe ſich befanden, brach das Schiffsvolk in dumpfen Jubel aus, und ruderte friſch durch die ſalzige Fluth. So lange das Schiff durch die Hafenbucht fuhr, glitt es in ſanftem Laufe dahin; als es aber in die offene See gelangt war, ſauſte ein mäch¬ tiger Windſtoß auf daſſelbe herein und trieb es, trotz aller Anſtrengungen der Ruderer, an das Geſtade zurück. Da ſprang Agamemnons Tochter flehend empor und rief laut: „Tochter Latona's, jungfräuliche Artemis, du

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/82>, abgerufen am 16.05.2024.