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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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mit der treulosen Priesterin wollte er vom schroffsten
Felsen ins Meer hinabstürzen, oder bei lebendigem Leib
mit dem Pfahle spießen lassen.

Und schon jagte er an der Spitze seines reisigen
Volkes dem Meeresufer zu, als plötzlich eine himmlische
Erscheinung den Zug hemmte, und den König wider
Willen stille zu stehen zwang. Pallas Athene, die er¬
habene Göttin, war es, deren Riesengestalt von einer
lichten Wolke umgeben, über der Erde schwebend, dem
Heereszug den Weg vertrat und deren Götterstimme wie
Donner über die Häupter der Taurier hinrollte: "Wo¬
hin, wohin jagest du, König Thoas, erhitzt und athem¬
los mit deinem Volke? Schenke den Worten einer Göttin
Gehör! Laß die Haufen deines Heeres ruhen, laß meine
Schützlinge frei abziehen! Das Verhängniß selbst hat,
durch den Ausspruch Apollo's, den Orestes hierher ge¬
rufen, daß er, von den Furien befreit, seine Schwester
ins Vaterland zurückgeleite, und das heilige Bildniß der
Artemis in meine geliebte Statt Athen bringe, wohin
sie selbst begehret hat! Die Flüchtlinge trägt deßwegen
Poseidon, der Meeresgott, mir zulieb auf unbewegter
Meeresfläche in ihrem Ruderschiffe dahin, und Orestes
wird in Athen der Taurischen Artemis Bild in einem
heiligen Hain und neuen, herrlichen Tempel aufstellen,
und Iphigenia wird auch dort ihre Priesterin seyn, dort
sterben, dort ihre fürstliche Gruft finden. Du, o Thoas,
und du Volk der Taurier, gönnt ihnen Allen ihr Ge¬
schick und zürnet nicht!"

Der König Thoas war ein frommer Verehrer der
Götter. Er warf sich vor der Erscheinung nieder, und
sprach anbetend: "O Pallas Athene! Wer Götterwort

mit der treuloſen Prieſterin wollte er vom ſchroffſten
Felſen ins Meer hinabſtürzen, oder bei lebendigem Leib
mit dem Pfahle ſpießen laſſen.

Und ſchon jagte er an der Spitze ſeines reiſigen
Volkes dem Meeresufer zu, als plötzlich eine himmliſche
Erſcheinung den Zug hemmte, und den König wider
Willen ſtille zu ſtehen zwang. Pallas Athene, die er¬
habene Göttin, war es, deren Rieſengeſtalt von einer
lichten Wolke umgeben, über der Erde ſchwebend, dem
Heereszug den Weg vertrat und deren Götterſtimme wie
Donner über die Häupter der Taurier hinrollte: „Wo¬
hin, wohin jageſt du, König Thoas, erhitzt und athem¬
los mit deinem Volke? Schenke den Worten einer Göttin
Gehör! Laß die Haufen deines Heeres ruhen, laß meine
Schützlinge frei abziehen! Das Verhängniß ſelbſt hat,
durch den Ausſpruch Apollo's, den Oreſtes hierher ge¬
rufen, daß er, von den Furien befreit, ſeine Schweſter
ins Vaterland zurückgeleite, und das heilige Bildniß der
Artemis in meine geliebte Statt Athen bringe, wohin
ſie ſelbſt begehret hat! Die Flüchtlinge trägt deßwegen
Poſeidon, der Meeresgott, mir zulieb auf unbewegter
Meeresfläche in ihrem Ruderſchiffe dahin, und Oreſtes
wird in Athen der Tauriſchen Artemis Bild in einem
heiligen Hain und neuen, herrlichen Tempel aufſtellen,
und Iphigenia wird auch dort ihre Prieſterin ſeyn, dort
ſterben, dort ihre fürſtliche Gruft finden. Du, o Thoas,
und du Volk der Taurier, gönnt ihnen Allen ihr Ge¬
ſchick und zürnet nicht!“

Der König Thoas war ein frommer Verehrer der
Götter. Er warf ſich vor der Erſcheinung nieder, und
ſprach anbetend: „O Pallas Athene! Wer Götterwort

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[62/0084] mit der treuloſen Prieſterin wollte er vom ſchroffſten Felſen ins Meer hinabſtürzen, oder bei lebendigem Leib mit dem Pfahle ſpießen laſſen. Und ſchon jagte er an der Spitze ſeines reiſigen Volkes dem Meeresufer zu, als plötzlich eine himmliſche Erſcheinung den Zug hemmte, und den König wider Willen ſtille zu ſtehen zwang. Pallas Athene, die er¬ habene Göttin, war es, deren Rieſengeſtalt von einer lichten Wolke umgeben, über der Erde ſchwebend, dem Heereszug den Weg vertrat und deren Götterſtimme wie Donner über die Häupter der Taurier hinrollte: „Wo¬ hin, wohin jageſt du, König Thoas, erhitzt und athem¬ los mit deinem Volke? Schenke den Worten einer Göttin Gehör! Laß die Haufen deines Heeres ruhen, laß meine Schützlinge frei abziehen! Das Verhängniß ſelbſt hat, durch den Ausſpruch Apollo's, den Oreſtes hierher ge¬ rufen, daß er, von den Furien befreit, ſeine Schweſter ins Vaterland zurückgeleite, und das heilige Bildniß der Artemis in meine geliebte Statt Athen bringe, wohin ſie ſelbſt begehret hat! Die Flüchtlinge trägt deßwegen Poſeidon, der Meeresgott, mir zulieb auf unbewegter Meeresfläche in ihrem Ruderſchiffe dahin, und Oreſtes wird in Athen der Tauriſchen Artemis Bild in einem heiligen Hain und neuen, herrlichen Tempel aufſtellen, und Iphigenia wird auch dort ihre Prieſterin ſeyn, dort ſterben, dort ihre fürſtliche Gruft finden. Du, o Thoas, und du Volk der Taurier, gönnt ihnen Allen ihr Ge¬ ſchick und zürnet nicht!“ Der König Thoas war ein frommer Verehrer der Götter. Er warf ſich vor der Erſcheinung nieder, und ſprach anbetend: „O Pallas Athene! Wer Götterwort

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/84>, abgerufen am 16.05.2024.