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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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vernimmt und sein Ohr nicht ihm zuneiget, der denkt
verkehrt. Kampf mit allmächtigen Göttern bringt keine
Ehre. Mögen deine Schützlinge mit dem Bildniß der
Göttin ziehen, wohin sie sollen, mögen sie das Bild
glücklich in deinem Reiche aufstellen. Ich senke meine
Lanze vor den Göttern. Laßt uns umwenden, und in
die Mauern unserer Stadt zurückkehren."

Es geschah, wie Athene verkündet hatte. Die Tau¬
rische Artemis erhielt ihren Tempel und behielt ihre Prie¬
sterin Iphigenia in Athen. Orestes setzte sich zu Mycene
als beglückter König auf den Thron seiner Väter, und
gewann mit der einzigen, lieblichen Tochter des Mene¬
laus und der Helena, Hermione, die vergebens an Neopto¬
lemus, den Sohn des Achilles, verlobt worden war, und
die ihm der Bräutigam mit Verlust seines eigenen Lebens
lassen mußte, auch das Königreich Sparta, und zuvor
noch hatte er Argos erobert. So besaß er ein mächtige¬
res Reich, als je sein Vater besessen. Seine Schwester
Elektra setzte ihr Gemahl Pylades auf den Thron von
Phocis. Chrysothemis starb unvermählt; Orestes selbst
erreichte ein Alter von neunzig Jahren. Da regte sich
der alte, erlöschende Fluch der Tantaliden noch einmal:
eine Schlange stach ihn in die Ferse, daß er starb.


vernimmt und ſein Ohr nicht ihm zuneiget, der denkt
verkehrt. Kampf mit allmächtigen Göttern bringt keine
Ehre. Mögen deine Schützlinge mit dem Bildniß der
Göttin ziehen, wohin ſie ſollen, mögen ſie das Bild
glücklich in deinem Reiche aufſtellen. Ich ſenke meine
Lanze vor den Göttern. Laßt uns umwenden, und in
die Mauern unſerer Stadt zurückkehren.“

Es geſchah, wie Athene verkündet hatte. Die Tau¬
riſche Artemis erhielt ihren Tempel und behielt ihre Prie¬
ſterin Iphigenia in Athen. Oreſtes ſetzte ſich zu Mycene
als beglückter König auf den Thron ſeiner Väter, und
gewann mit der einzigen, lieblichen Tochter des Mene¬
laus und der Helena, Hermione, die vergebens an Neopto¬
lemus, den Sohn des Achilles, verlobt worden war, und
die ihm der Bräutigam mit Verluſt ſeines eigenen Lebens
laſſen mußte, auch das Königreich Sparta, und zuvor
noch hatte er Argos erobert. So beſaß er ein mächtige¬
res Reich, als je ſein Vater beſeſſen. Seine Schweſter
Elektra ſetzte ihr Gemahl Pylades auf den Thron von
Phocis. Chryſothemis ſtarb unvermählt; Oreſtes ſelbſt
erreichte ein Alter von neunzig Jahren. Da regte ſich
der alte, erlöſchende Fluch der Tantaliden noch einmal:
eine Schlange ſtach ihn in die Ferſe, daß er ſtarb.


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[63/0085] vernimmt und ſein Ohr nicht ihm zuneiget, der denkt verkehrt. Kampf mit allmächtigen Göttern bringt keine Ehre. Mögen deine Schützlinge mit dem Bildniß der Göttin ziehen, wohin ſie ſollen, mögen ſie das Bild glücklich in deinem Reiche aufſtellen. Ich ſenke meine Lanze vor den Göttern. Laßt uns umwenden, und in die Mauern unſerer Stadt zurückkehren.“ Es geſchah, wie Athene verkündet hatte. Die Tau¬ riſche Artemis erhielt ihren Tempel und behielt ihre Prie¬ ſterin Iphigenia in Athen. Oreſtes ſetzte ſich zu Mycene als beglückter König auf den Thron ſeiner Väter, und gewann mit der einzigen, lieblichen Tochter des Mene¬ laus und der Helena, Hermione, die vergebens an Neopto¬ lemus, den Sohn des Achilles, verlobt worden war, und die ihm der Bräutigam mit Verluſt ſeines eigenen Lebens laſſen mußte, auch das Königreich Sparta, und zuvor noch hatte er Argos erobert. So beſaß er ein mächtige¬ res Reich, als je ſein Vater beſeſſen. Seine Schweſter Elektra ſetzte ihr Gemahl Pylades auf den Thron von Phocis. Chryſothemis ſtarb unvermählt; Oreſtes ſelbſt erreichte ein Alter von neunzig Jahren. Da regte ſich der alte, erlöſchende Fluch der Tantaliden noch einmal: eine Schlange ſtach ihn in die Ferſe, daß er ſtarb.

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/85>, abgerufen am 24.11.2024.