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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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er ist wohl irgendwo an eine wilde Insel verschlagen
und wird mit Zwang dort festgehalten. Ja, mir sagt es
mein weissagender Sinn, er weilt nicht lange mehr, er
macht sich bald los, und kehret heim! Du bist doch
deines Vaters leiblicher Sohn, lieber Telemachus. Wie du
ihm am Haupte, zumal an den freundlichen Augen
gleichest! Denn wisse, ich habe deinen Vater gekannt, ehe
er gen Troja fuhr. Seitdem sah ich ihn nicht mehr.
Doch, sage mir, was ist denn das für ein Gewühl in
deinem Hause? Feierst du denn ein Gastmahl, oder ein
Hochzeitfest?"

Telemach antwortete mit einem Seufzer: "Ach lie¬
ber Gastfreund, ehemals mochte wohl unser Haus angesehen
und begütert heißen; jetzt ist es anders; alle diese Män¬
ner aus der Nachbarschaft, die du hier siehest, umwerben
meine Mutter, und verzehren unser Gut. Sie selbst
kann eine verabscheute Wiedervermählung nicht abschlagen
und nicht vollziehen. Zudessen verwüsten diese Schlem¬
mer mein Haus und in Kurzem werden sie mich selbst
umbringen!" Mit zornigem Schmerz antwortete die
Göttin: "Wehe, wie sehr bedarfst du des Vaters, Jüng¬
ling! Wohl empfehle ich dir, zu bedenken, wie du diesen
lästigen Schwarm aus dem Palaste fortdrängest! Laß
mich dir einen Rath geben. Morgen erhebe dich unter
ihnen, und heiße sie, einen Jeglichen in das Seinige, sich
zerstreuen; deiner Mutter aber sage: wenn ihr eigenes
Herz nach einer Vermählung begehrt, so soll sie in den
Palast ihres königlichen Vaters heimkehren, dort mag die
Hochzeit angeordnet, mag die Brautgabe bereitet werden.
Du selbst aber rüste das beste Schiff, das du hast, mit
zwanzig Ruderern aus, und begieb dich auf den Weg, den

er iſt wohl irgendwo an eine wilde Inſel verſchlagen
und wird mit Zwang dort feſtgehalten. Ja, mir ſagt es
mein weiſſagender Sinn, er weilt nicht lange mehr, er
macht ſich bald los, und kehret heim! Du biſt doch
deines Vaters leiblicher Sohn, lieber Telemachus. Wie du
ihm am Haupte, zumal an den freundlichen Augen
gleicheſt! Denn wiſſe, ich habe deinen Vater gekannt, ehe
er gen Troja fuhr. Seitdem ſah ich ihn nicht mehr.
Doch, ſage mir, was iſt denn das für ein Gewühl in
deinem Hauſe? Feierſt du denn ein Gaſtmahl, oder ein
Hochzeitfeſt?“

Telemach antwortete mit einem Seufzer: „Ach lie¬
ber Gaſtfreund, ehemals mochte wohl unſer Haus angeſehen
und begütert heißen; jetzt iſt es anders; alle dieſe Män¬
ner aus der Nachbarſchaft, die du hier ſieheſt, umwerben
meine Mutter, und verzehren unſer Gut. Sie ſelbſt
kann eine verabſcheute Wiedervermählung nicht abſchlagen
und nicht vollziehen. Zudeſſen verwüſten dieſe Schlem¬
mer mein Haus und in Kurzem werden ſie mich ſelbſt
umbringen!“ Mit zornigem Schmerz antwortete die
Göttin: „Wehe, wie ſehr bedarfſt du des Vaters, Jüng¬
ling! Wohl empfehle ich dir, zu bedenken, wie du dieſen
läſtigen Schwarm aus dem Palaſte fortdrängeſt! Laß
mich dir einen Rath geben. Morgen erhebe dich unter
ihnen, und heiße ſie, einen Jeglichen in das Seinige, ſich
zerſtreuen; deiner Mutter aber ſage: wenn ihr eigenes
Herz nach einer Vermählung begehrt, ſo ſoll ſie in den
Palaſt ihres königlichen Vaters heimkehren, dort mag die
Hochzeit angeordnet, mag die Brautgabe bereitet werden.
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[71/0093] er iſt wohl irgendwo an eine wilde Inſel verſchlagen und wird mit Zwang dort feſtgehalten. Ja, mir ſagt es mein weiſſagender Sinn, er weilt nicht lange mehr, er macht ſich bald los, und kehret heim! Du biſt doch deines Vaters leiblicher Sohn, lieber Telemachus. Wie du ihm am Haupte, zumal an den freundlichen Augen gleicheſt! Denn wiſſe, ich habe deinen Vater gekannt, ehe er gen Troja fuhr. Seitdem ſah ich ihn nicht mehr. Doch, ſage mir, was iſt denn das für ein Gewühl in deinem Hauſe? Feierſt du denn ein Gaſtmahl, oder ein Hochzeitfeſt?“ Telemach antwortete mit einem Seufzer: „Ach lie¬ ber Gaſtfreund, ehemals mochte wohl unſer Haus angeſehen und begütert heißen; jetzt iſt es anders; alle dieſe Män¬ ner aus der Nachbarſchaft, die du hier ſieheſt, umwerben meine Mutter, und verzehren unſer Gut. Sie ſelbſt kann eine verabſcheute Wiedervermählung nicht abſchlagen und nicht vollziehen. Zudeſſen verwüſten dieſe Schlem¬ mer mein Haus und in Kurzem werden ſie mich ſelbſt umbringen!“ Mit zornigem Schmerz antwortete die Göttin: „Wehe, wie ſehr bedarfſt du des Vaters, Jüng¬ ling! Wohl empfehle ich dir, zu bedenken, wie du dieſen läſtigen Schwarm aus dem Palaſte fortdrängeſt! Laß mich dir einen Rath geben. Morgen erhebe dich unter ihnen, und heiße ſie, einen Jeglichen in das Seinige, ſich zerſtreuen; deiner Mutter aber ſage: wenn ihr eigenes Herz nach einer Vermählung begehrt, ſo ſoll ſie in den Palaſt ihres königlichen Vaters heimkehren, dort mag die Hochzeit angeordnet, mag die Brautgabe bereitet werden. Du ſelbſt aber rüſte das beſte Schiff, das du haſt, mit zwanzig Ruderern aus, und begieb dich auf den Weg, den

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/93>, abgerufen am 16.05.2024.