Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878.
Anhang. Anatolische Fragmente. die osmanischen Chroniken erzählen, gab es in den ersten Jahr-hunderten der türkischen Herrschaft ein ziemlich freisinniges Element unter den Rechtgläubigen, und zwar waren dies, wie man am allerwenigsten erwarten sollte, die Derwische. Klein- Asien war der Schauplatz ihres ersten Aufstandes noch vor dem Falle Constantinopels. Ihre Dogmen waren: religiöse Gemein- schaft, also Anschluß an die Christen, bürgerliche und politische Frei- heit, Ausmerzung gewisser Fastengebote aus dem Koran, u. dgl. m. Die bewaffnete Macht intervenirte und der Anführer der Empörer wurde gefangen nach Smyrna gebracht, auf ein Brett genagelt und durch die Straßen der Stadt geschleppt. Während das Volk dies schreckliche Schauspiel bejohlte, stürzten sich die Schüler Mustafas in ihre Dolche, mit dem Rufe: "O, Prophet, nimm uns auf in dein Reich 1!" Der Lieblingsaufenthalt der mohammedanischen Smyrnioten als beabsichtigt war, fortgeschickt zu sehen, so ist doch zu glauben, daß der grimmige alte Churschid Pascha, der das Christenmassacre nächst Beirut be- fehligt haben soll, nur die Achseln gezuckt und bedauert hat, daß man dem armen Kanonenfutter so bald sein kleines Vergnügen nahm. Hatte man doch im Konak eine Mitrailleuse vor jeder Thüre und war daher sicher. ("Allg. Ztg.", 1877, Nr. 11.) 1 Jouannin, "Turquie", 52.
Anhang. Anatoliſche Fragmente. die osmaniſchen Chroniken erzählen, gab es in den erſten Jahr-hunderten der türkiſchen Herrſchaft ein ziemlich freiſinniges Element unter den Rechtgläubigen, und zwar waren dies, wie man am allerwenigſten erwarten ſollte, die Derwiſche. Klein- Aſien war der Schauplatz ihres erſten Aufſtandes noch vor dem Falle Conſtantinopels. Ihre Dogmen waren: religiöſe Gemein- ſchaft, alſo Anſchluß an die Chriſten, bürgerliche und politiſche Frei- heit, Ausmerzung gewiſſer Faſtengebote aus dem Koran, u. dgl. m. Die bewaffnete Macht intervenirte und der Anführer der Empörer wurde gefangen nach Smyrna gebracht, auf ein Brett genagelt und durch die Straßen der Stadt geſchleppt. Während das Volk dies ſchreckliche Schauſpiel bejohlte, ſtürzten ſich die Schüler Muſtafas in ihre Dolche, mit dem Rufe: „O, Prophet, nimm uns auf in dein Reich 1!“ Der Lieblingsaufenthalt der mohammedaniſchen Smyrnioten als beabſichtigt war, fortgeſchickt zu ſehen, ſo iſt doch zu glauben, daß der grimmige alte Churſchid Paſcha, der das Chriſtenmaſſacre nächſt Beirut be- fehligt haben ſoll, nur die Achſeln gezuckt und bedauert hat, daß man dem armen Kanonenfutter ſo bald ſein kleines Vergnügen nahm. Hatte man doch im Konak eine Mitrailleuſe vor jeder Thüre und war daher ſicher. („Allg. Ztg.“, 1877, Nr. 11.) 1 Jouannin, „Turquie“, 52.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0206" n="174"/><fw place="top" type="header">Anhang. Anatoliſche Fragmente.</fw><lb/> die osmaniſchen Chroniken erzählen, gab es in den erſten Jahr-<lb/> hunderten der türkiſchen Herrſchaft ein ziemlich freiſinniges<lb/> Element unter den Rechtgläubigen, und zwar waren dies, wie<lb/> man am allerwenigſten erwarten ſollte, die Derwiſche. Klein-<lb/> Aſien war der Schauplatz ihres erſten Aufſtandes noch vor dem<lb/> Falle Conſtantinopels. Ihre Dogmen waren: religiöſe Gemein-<lb/> ſchaft, alſo Anſchluß an die Chriſten, bürgerliche und politiſche Frei-<lb/> heit, Ausmerzung gewiſſer Faſtengebote aus dem Koran, u. dgl. m.<lb/> Die bewaffnete Macht intervenirte und der Anführer der<lb/> Empörer wurde gefangen nach Smyrna gebracht, auf ein<lb/> Brett genagelt und durch die Straßen der Stadt geſchleppt.<lb/> Während das Volk dies ſchreckliche Schauſpiel bejohlte, ſtürzten<lb/> ſich die Schüler Muſtafas in ihre Dolche, mit dem Rufe: „O,<lb/> Prophet, nimm uns auf in dein Reich <note place="foot" n="1">Jouannin, <hi rendition="#aq">„Turquie“,</hi> 52.</note>!“</p><lb/> <p>Der Lieblingsaufenthalt der mohammedaniſchen Smyrnioten<lb/> ſind indeß weniger der Quai, als vielmehr die Gärten längs<lb/> des Meles. Kaffeebuden erheben ſich dort unter mächtigen Pla-<lb/> tanen, der Mandel- und Citronenbaum fächelt den Sinnen Wohl-<lb/> gerüche zu und das Auge weilt gerne an den fernen Hängen<lb/> von Bunarbaſchi, dem Ideal eines orientaliſchen Lauſch- und<lb/> Ruheplätzchens. In Bunarbaſchi, deſſen Name ſchon auf Quellen<lb/> und erquickende Bachcascaden hinweiſt, wird füglich den ganzen<lb/> Tag über nichts Anderes gethan, als gefaulenzt. Die mächtigen<lb/> Platanen und Cypreſſen, die ſich dort erheben, ſind buchſtäblich<lb/> von rieſelnden Gewäſſern eingeſchloſſen, von allen Seiten her<lb/> gurgelt und rauſcht es und unter den weithin ſchattenden Rieſen-<lb/> kronen ſitzen in patriarchaliſcher Genügſamkeit die ſilberbärtigen<lb/> Rechtgläubigen, eher Marmorbildern, als wie Menſchen gleich.<lb/> Nichts vermag dieſe zweifelhaft Glücklichen in ihrer Behaglichkeit<lb/> zu ſtören. Der Ganz der Weltgeſchichte iſt ihnen entrückt, ſie<lb/> wiſſen nichts von Culturarbeit und geiſtigem Ringen, nur die<lb/><note xml:id="seg2pn_19_2" prev="#seg2pn_19_1" place="foot" n="2">als beabſichtigt war, fortgeſchickt zu ſehen, ſo iſt doch zu glauben, daß der<lb/> grimmige alte Churſchid Paſcha, der das Chriſtenmaſſacre nächſt Beirut be-<lb/> fehligt haben ſoll, nur die Achſeln gezuckt und bedauert hat, daß man<lb/> dem armen Kanonenfutter ſo bald ſein kleines Vergnügen nahm. Hatte<lb/> man doch im Konak eine Mitrailleuſe vor jeder Thüre und war daher<lb/> ſicher. („Allg. Ztg.“, 1877, Nr. 11.)</note><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [174/0206]
Anhang. Anatoliſche Fragmente.
die osmaniſchen Chroniken erzählen, gab es in den erſten Jahr-
hunderten der türkiſchen Herrſchaft ein ziemlich freiſinniges
Element unter den Rechtgläubigen, und zwar waren dies, wie
man am allerwenigſten erwarten ſollte, die Derwiſche. Klein-
Aſien war der Schauplatz ihres erſten Aufſtandes noch vor dem
Falle Conſtantinopels. Ihre Dogmen waren: religiöſe Gemein-
ſchaft, alſo Anſchluß an die Chriſten, bürgerliche und politiſche Frei-
heit, Ausmerzung gewiſſer Faſtengebote aus dem Koran, u. dgl. m.
Die bewaffnete Macht intervenirte und der Anführer der
Empörer wurde gefangen nach Smyrna gebracht, auf ein
Brett genagelt und durch die Straßen der Stadt geſchleppt.
Während das Volk dies ſchreckliche Schauſpiel bejohlte, ſtürzten
ſich die Schüler Muſtafas in ihre Dolche, mit dem Rufe: „O,
Prophet, nimm uns auf in dein Reich 1!“
Der Lieblingsaufenthalt der mohammedaniſchen Smyrnioten
ſind indeß weniger der Quai, als vielmehr die Gärten längs
des Meles. Kaffeebuden erheben ſich dort unter mächtigen Pla-
tanen, der Mandel- und Citronenbaum fächelt den Sinnen Wohl-
gerüche zu und das Auge weilt gerne an den fernen Hängen
von Bunarbaſchi, dem Ideal eines orientaliſchen Lauſch- und
Ruheplätzchens. In Bunarbaſchi, deſſen Name ſchon auf Quellen
und erquickende Bachcascaden hinweiſt, wird füglich den ganzen
Tag über nichts Anderes gethan, als gefaulenzt. Die mächtigen
Platanen und Cypreſſen, die ſich dort erheben, ſind buchſtäblich
von rieſelnden Gewäſſern eingeſchloſſen, von allen Seiten her
gurgelt und rauſcht es und unter den weithin ſchattenden Rieſen-
kronen ſitzen in patriarchaliſcher Genügſamkeit die ſilberbärtigen
Rechtgläubigen, eher Marmorbildern, als wie Menſchen gleich.
Nichts vermag dieſe zweifelhaft Glücklichen in ihrer Behaglichkeit
zu ſtören. Der Ganz der Weltgeſchichte iſt ihnen entrückt, ſie
wiſſen nichts von Culturarbeit und geiſtigem Ringen, nur die
2
1 Jouannin, „Turquie“, 52.
2 als beabſichtigt war, fortgeſchickt zu ſehen, ſo iſt doch zu glauben, daß der
grimmige alte Churſchid Paſcha, der das Chriſtenmaſſacre nächſt Beirut be-
fehligt haben ſoll, nur die Achſeln gezuckt und bedauert hat, daß man
dem armen Kanonenfutter ſo bald ſein kleines Vergnügen nahm. Hatte
man doch im Konak eine Mitrailleuſe vor jeder Thüre und war daher
ſicher. („Allg. Ztg.“, 1877, Nr. 11.)
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
| URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/schweiger_armenien_1878 |
| URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/schweiger_armenien_1878/206 |
| Zitationshilfe: | Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schweiger_armenien_1878/206>, abgerufen am 21.11.2024. |
