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Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878.

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Anhang. Anatolische Fragmente.
Stambuler Parlament1. Was thut aber die Regierung? Sie
hat einfach taube Ohren gegenüber derlei Kundgebungen und
betrachtet die Deputirten-Versammlung als einen Zeitvertreib
ganz äußerlicher Natur, den man geeigneten Momentes gewaltsam
zum Abschluß bringt, die Bude sperrt und die oratorischen
Kampfhähne zwangsweise in die Heimat abschiebt.

Neben den Türken bilden in Anatolien auch einzelne Turk-
menen-Stämme, wie die Yuruken (Nomaden) und die wilden,
kriegerischen Afscharen im Anti-Taurus einen Theil der mos-
lemischen Bevölkerung. Beider ist bereits in den vorangegangenen
Capiteln gedacht worden, und dürfte über diese Stämme kaum
noch Erhebliches nachzutragen sein. Zu unterscheiden ist wohl,
daß die Yuruken im Allgemeinen dem Lande sehr von Nutzen
sind, durch die ausgebreitete und rationelle Viehzucht, die sie be-
treiben, was von den Afscharen, einer großartigen Räubergesell-
schaft, eben nicht behauptet werden kann. Jene nehmen die
hohen weitläufigen und grasigen Tafelebenen ein, wo sie in
patriarchalischen Verhältnissen leben und nur äußerlich ihr mos-
lemisches Glaubensbekenntniß bethätigen, während sie im Grunde
nahezu religionslos sind. Die Afscharen hingegen sind fanatische
Mohammedaner, was sie aber keineswegs verhindert, die tür-
kischen Bauern und Behörden, wo sich nur immer Gelegenheit
ergibt, zu verfolgen und zu brandschatzen, wie sie überhaupt die
osmanische Autorität und Alles, was drum und dran hängt,
grimmig hassen. Hiebei erscheint ihre Beutelust mehr ein Kampf
ums Dasein, während die Yuruken durch ihre Heerden und durch

1 So äußerte sich der Deputirte von Smyrna, Jenischeherlüzade
Achmed, in einer Sitzung: Wollte man in unserer Provinz eine Gemeinde
bilden, so würde man keine Leute finden, welche lesen und schreiben können;
höchstens der Imam könne schreiben, wenn aber seine Tinte getrocknet ist,
so sei sie nicht mehr zu lesen. -- Salim Effendi (Kastamuni): In der Ge-
meinde fänden sich wohl Leute, welche lesen und schreiben können, aber
man müsse sie zu ihren Functionen besolden; Daniel Effendi (Erzerum):
Bis jetzt ist in jedem Dorfe ein Rath der Alten, da aber Niemand be-
soldet ist, so versammeln sie sich nie und lassen die Geschäfte liegen. Der
erste Redner gesteht auch, daß es in seiner Provinz Dorfschulzen (Mukh-
tars) gebe, die nicht lesen und schreiben könnten und in Folge dessen von
den Cassenbeamten betrogen würden; u. dgl. erbauliche Dinge mehr. (Vgl.
"Allg. Ztg.", Nr. 98, 1877.)

Anhang. Anatoliſche Fragmente.
Stambuler Parlament1. Was thut aber die Regierung? Sie
hat einfach taube Ohren gegenüber derlei Kundgebungen und
betrachtet die Deputirten-Verſammlung als einen Zeitvertreib
ganz äußerlicher Natur, den man geeigneten Momentes gewaltſam
zum Abſchluß bringt, die Bude ſperrt und die oratoriſchen
Kampfhähne zwangsweiſe in die Heimat abſchiebt.

Neben den Türken bilden in Anatolien auch einzelne Turk-
menen-Stämme, wie die Yuruken (Nomaden) und die wilden,
kriegeriſchen Afſcharen im Anti-Taurus einen Theil der mos-
lemiſchen Bevölkerung. Beider iſt bereits in den vorangegangenen
Capiteln gedacht worden, und dürfte über dieſe Stämme kaum
noch Erhebliches nachzutragen ſein. Zu unterſcheiden iſt wohl,
daß die Yuruken im Allgemeinen dem Lande ſehr von Nutzen
ſind, durch die ausgebreitete und rationelle Viehzucht, die ſie be-
treiben, was von den Afſcharen, einer großartigen Räubergeſell-
ſchaft, eben nicht behauptet werden kann. Jene nehmen die
hohen weitläufigen und graſigen Tafelebenen ein, wo ſie in
patriarchaliſchen Verhältniſſen leben und nur äußerlich ihr mos-
lemiſches Glaubensbekenntniß bethätigen, während ſie im Grunde
nahezu religionslos ſind. Die Afſcharen hingegen ſind fanatiſche
Mohammedaner, was ſie aber keineswegs verhindert, die tür-
kiſchen Bauern und Behörden, wo ſich nur immer Gelegenheit
ergibt, zu verfolgen und zu brandſchatzen, wie ſie überhaupt die
osmaniſche Autorität und Alles, was drum und dran hängt,
grimmig haſſen. Hiebei erſcheint ihre Beuteluſt mehr ein Kampf
ums Daſein, während die Yuruken durch ihre Heerden und durch

1 So äußerte ſich der Deputirte von Smyrna, Jeniſcheherlüzade
Achmed, in einer Sitzung: Wollte man in unſerer Provinz eine Gemeinde
bilden, ſo würde man keine Leute finden, welche leſen und ſchreiben können;
höchſtens der Imam könne ſchreiben, wenn aber ſeine Tinte getrocknet iſt,
ſo ſei ſie nicht mehr zu leſen. — Salim Effendi (Kaſtamuni): In der Ge-
meinde fänden ſich wohl Leute, welche leſen und ſchreiben können, aber
man müſſe ſie zu ihren Functionen beſolden; Daniel Effendi (Erzerum):
Bis jetzt iſt in jedem Dorfe ein Rath der Alten, da aber Niemand be-
ſoldet iſt, ſo verſammeln ſie ſich nie und laſſen die Geſchäfte liegen. Der
erſte Redner geſteht auch, daß es in ſeiner Provinz Dorfſchulzen (Mukh-
tars) gebe, die nicht leſen und ſchreiben könnten und in Folge deſſen von
den Caſſenbeamten betrogen würden; u. dgl. erbauliche Dinge mehr. (Vgl.
„Allg. Ztg.“, Nr. 98, 1877.)
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[222/0254] Anhang. Anatoliſche Fragmente. Stambuler Parlament 1. Was thut aber die Regierung? Sie hat einfach taube Ohren gegenüber derlei Kundgebungen und betrachtet die Deputirten-Verſammlung als einen Zeitvertreib ganz äußerlicher Natur, den man geeigneten Momentes gewaltſam zum Abſchluß bringt, die Bude ſperrt und die oratoriſchen Kampfhähne zwangsweiſe in die Heimat abſchiebt. Neben den Türken bilden in Anatolien auch einzelne Turk- menen-Stämme, wie die Yuruken (Nomaden) und die wilden, kriegeriſchen Afſcharen im Anti-Taurus einen Theil der mos- lemiſchen Bevölkerung. Beider iſt bereits in den vorangegangenen Capiteln gedacht worden, und dürfte über dieſe Stämme kaum noch Erhebliches nachzutragen ſein. Zu unterſcheiden iſt wohl, daß die Yuruken im Allgemeinen dem Lande ſehr von Nutzen ſind, durch die ausgebreitete und rationelle Viehzucht, die ſie be- treiben, was von den Afſcharen, einer großartigen Räubergeſell- ſchaft, eben nicht behauptet werden kann. Jene nehmen die hohen weitläufigen und graſigen Tafelebenen ein, wo ſie in patriarchaliſchen Verhältniſſen leben und nur äußerlich ihr mos- lemiſches Glaubensbekenntniß bethätigen, während ſie im Grunde nahezu religionslos ſind. Die Afſcharen hingegen ſind fanatiſche Mohammedaner, was ſie aber keineswegs verhindert, die tür- kiſchen Bauern und Behörden, wo ſich nur immer Gelegenheit ergibt, zu verfolgen und zu brandſchatzen, wie ſie überhaupt die osmaniſche Autorität und Alles, was drum und dran hängt, grimmig haſſen. Hiebei erſcheint ihre Beuteluſt mehr ein Kampf ums Daſein, während die Yuruken durch ihre Heerden und durch 1 So äußerte ſich der Deputirte von Smyrna, Jeniſcheherlüzade Achmed, in einer Sitzung: Wollte man in unſerer Provinz eine Gemeinde bilden, ſo würde man keine Leute finden, welche leſen und ſchreiben können; höchſtens der Imam könne ſchreiben, wenn aber ſeine Tinte getrocknet iſt, ſo ſei ſie nicht mehr zu leſen. — Salim Effendi (Kaſtamuni): In der Ge- meinde fänden ſich wohl Leute, welche leſen und ſchreiben können, aber man müſſe ſie zu ihren Functionen beſolden; Daniel Effendi (Erzerum): Bis jetzt iſt in jedem Dorfe ein Rath der Alten, da aber Niemand be- ſoldet iſt, ſo verſammeln ſie ſich nie und laſſen die Geſchäfte liegen. Der erſte Redner geſteht auch, daß es in ſeiner Provinz Dorfſchulzen (Mukh- tars) gebe, die nicht leſen und ſchreiben könnten und in Folge deſſen von den Caſſenbeamten betrogen würden; u. dgl. erbauliche Dinge mehr. (Vgl. „Allg. Ztg.“, Nr. 98, 1877.)

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Zitationshilfe: Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schweiger_armenien_1878/254>, abgerufen am 24.11.2024.