pse_127.001 4. Oberfläche und Tiefe. Hier ist der Wertunterschied pse_127.002 von vornherein gegeben. Ein gestaltender Blick, der pse_127.003 nur über die Oberfläche der gegenübertretenden Welt pse_127.004 gleitet, wird sicher auch liebenswürdige und heitere Züge, ansehnliche pse_127.005 Weiten und manchen Reichtum ins Werk einformen pse_127.006 können. Aber es fehlt eben das, was das ästhetische Werk zu pse_127.007 einem hohen Wertträger macht: das Durchscheinen der pse_127.008 Tiefen. Erst wenn man unter dieser Oberfläche das Große, pse_127.009 Harte, Feste, das Bedrohende und Furchtbare, das Ewige und pse_127.010 Dauernde zu spüren bekommt, sind Bedingungen für ein pse_127.011 starkes Werterlebnis gegeben. Gerade hier aber muß in der pse_127.012 Betrachtung der Dichtung darauf geachtet werden, daß es um pse_127.013 eine Oberfläche und eine Tiefe geht, die in der künstlerischen pse_127.014 Gestaltung allein da ist. Ein "philosophischer" Roman kann pse_127.015 schwere Probleme traktieren und doch als Kunstwerk oberflächlich pse_127.016 sein, weil solche "schwere Stellen" nur wissenschaftliche pse_127.017 Einsprengsel sind und das übrige Werk seicht dahinplätschert. pse_127.018 Und ein scheinbar harmloses und heiteres Dichtwerk pse_127.019 kann als Kunstwerk ungeahnte Tiefen enthüllen. Man pse_127.020 denke auch an den Unterschied zwischen Gustav Freytags und pse_127.021 Wilhelm Raabes Romanschaffen. Nochmals sei wiederholt, pse_127.022 daß diese Kategorien sich nur auf das theoretisch herauslösbare pse_127.023 Weltbild beziehen und daß damit noch nichts Endgültiges pse_127.024 über den Wert einer bestimmten Dichtung gesagt ist. Wir pse_127.025 werden noch öfter auf die Wertfrage stoßen.
pse_127.026 Mit dem Weltbild der Dichtung und der damit verbundenen pse_127.027 Werthaftigkeit hängt auch das zusammen, was wir die pse_127.028 Erlebniskreise nennen. Man kann nämlich den Blick darauf pse_127.029 richten, was den Dichter zum Gestalten angereizt hat, was an pse_127.030 Weltstoff ihn ergriffen hat. Ganz äußerlich ist das der Stoff, pse_127.031 aber im dichterischen Kunstwerk ist er als solcher nie da, da pse_127.032 verbindet er sich mit der menschlichen Haltung des Schöpfers pse_127.033 zu einem Neuen. Wir nennen diesen Bereich, in dem das pse_127.034 Erlebnis ersteht, den Erlebniskreis. Welche Erlebniskreise das pse_127.035 sein können, ist für die Dichtungslehre nicht von großer Bedeutung, pse_127.036 wichtiger ist die Frage, wie weit von diesem Erlebniskreis pse_127.037 aus die Welt dichterisch umspannt und wie tief von pse_127.038 ihm aus die Gründe und das Ewige erhorcht werden können.
pse_127.001 4. Oberfläche und Tiefe. Hier ist der Wertunterschied pse_127.002 von vornherein gegeben. Ein gestaltender Blick, der pse_127.003 nur über die Oberfläche der gegenübertretenden Welt pse_127.004 gleitet, wird sicher auch liebenswürdige und heitere Züge, ansehnliche pse_127.005 Weiten und manchen Reichtum ins Werk einformen pse_127.006 können. Aber es fehlt eben das, was das ästhetische Werk zu pse_127.007 einem hohen Wertträger macht: das Durchscheinen der pse_127.008 Tiefen. Erst wenn man unter dieser Oberfläche das Große, pse_127.009 Harte, Feste, das Bedrohende und Furchtbare, das Ewige und pse_127.010 Dauernde zu spüren bekommt, sind Bedingungen für ein pse_127.011 starkes Werterlebnis gegeben. Gerade hier aber muß in der pse_127.012 Betrachtung der Dichtung darauf geachtet werden, daß es um pse_127.013 eine Oberfläche und eine Tiefe geht, die in der künstlerischen pse_127.014 Gestaltung allein da ist. Ein »philosophischer« Roman kann pse_127.015 schwere Probleme traktieren und doch als Kunstwerk oberflächlich pse_127.016 sein, weil solche »schwere Stellen« nur wissenschaftliche pse_127.017 Einsprengsel sind und das übrige Werk seicht dahinplätschert. pse_127.018 Und ein scheinbar harmloses und heiteres Dichtwerk pse_127.019 kann als Kunstwerk ungeahnte Tiefen enthüllen. Man pse_127.020 denke auch an den Unterschied zwischen Gustav Freytags und pse_127.021 Wilhelm Raabes Romanschaffen. Nochmals sei wiederholt, pse_127.022 daß diese Kategorien sich nur auf das theoretisch herauslösbare pse_127.023 Weltbild beziehen und daß damit noch nichts Endgültiges pse_127.024 über den Wert einer bestimmten Dichtung gesagt ist. Wir pse_127.025 werden noch öfter auf die Wertfrage stoßen.
pse_127.026 Mit dem Weltbild der Dichtung und der damit verbundenen pse_127.027 Werthaftigkeit hängt auch das zusammen, was wir die pse_127.028 Erlebniskreise nennen. Man kann nämlich den Blick darauf pse_127.029 richten, was den Dichter zum Gestalten angereizt hat, was an pse_127.030 Weltstoff ihn ergriffen hat. Ganz äußerlich ist das der Stoff, pse_127.031 aber im dichterischen Kunstwerk ist er als solcher nie da, da pse_127.032 verbindet er sich mit der menschlichen Haltung des Schöpfers pse_127.033 zu einem Neuen. Wir nennen diesen Bereich, in dem das pse_127.034 Erlebnis ersteht, den Erlebniskreis. Welche Erlebniskreise das pse_127.035 sein können, ist für die Dichtungslehre nicht von großer Bedeutung, pse_127.036 wichtiger ist die Frage, wie weit von diesem Erlebniskreis pse_127.037 aus die Welt dichterisch umspannt und wie tief von pse_127.038 ihm aus die Gründe und das Ewige erhorcht werden können.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0143"n="127"/><lbn="pse_127.001"/>
4. <hirendition="#i">Oberfläche und Tiefe.</hi> Hier ist der Wertunterschied <lbn="pse_127.002"/>
von vornherein gegeben. Ein gestaltender Blick, der <lbn="pse_127.003"/>
nur über die Oberfläche der gegenübertretenden Welt <lbn="pse_127.004"/>
gleitet, wird sicher auch liebenswürdige und heitere Züge, ansehnliche <lbn="pse_127.005"/>
Weiten und manchen Reichtum ins Werk einformen <lbn="pse_127.006"/>
können. Aber es fehlt eben das, was das ästhetische Werk zu <lbn="pse_127.007"/>
einem hohen Wertträger macht: das Durchscheinen der <lbn="pse_127.008"/>
Tiefen. Erst wenn man unter dieser Oberfläche das Große, <lbn="pse_127.009"/>
Harte, Feste, das Bedrohende und Furchtbare, das Ewige und <lbn="pse_127.010"/>
Dauernde zu spüren bekommt, sind Bedingungen für ein <lbn="pse_127.011"/>
starkes Werterlebnis gegeben. Gerade hier aber muß in der <lbn="pse_127.012"/>
Betrachtung der Dichtung darauf geachtet werden, daß es um <lbn="pse_127.013"/>
eine Oberfläche und eine Tiefe geht, die in der künstlerischen <lbn="pse_127.014"/>
Gestaltung allein da ist. Ein »philosophischer« Roman kann <lbn="pse_127.015"/>
schwere Probleme traktieren und doch als Kunstwerk oberflächlich <lbn="pse_127.016"/>
sein, weil solche »schwere Stellen« nur wissenschaftliche <lbn="pse_127.017"/>
Einsprengsel sind und das übrige Werk seicht dahinplätschert. <lbn="pse_127.018"/>
Und ein scheinbar harmloses und heiteres Dichtwerk <lbn="pse_127.019"/>
kann als Kunstwerk ungeahnte Tiefen enthüllen. Man <lbn="pse_127.020"/>
denke auch an den Unterschied zwischen Gustav Freytags und <lbn="pse_127.021"/>
Wilhelm Raabes Romanschaffen. Nochmals sei wiederholt, <lbn="pse_127.022"/>
daß diese Kategorien sich nur auf das theoretisch herauslösbare <lbn="pse_127.023"/>
Weltbild beziehen und daß damit noch nichts Endgültiges <lbn="pse_127.024"/>
über den Wert einer bestimmten Dichtung gesagt ist. Wir <lbn="pse_127.025"/>
werden noch öfter auf die Wertfrage stoßen.</p><p><lbn="pse_127.026"/>
Mit dem Weltbild der Dichtung und der damit verbundenen <lbn="pse_127.027"/>
Werthaftigkeit hängt auch das zusammen, was wir die <lbn="pse_127.028"/><hirendition="#i">Erlebniskreise</hi> nennen. Man kann nämlich den Blick darauf <lbn="pse_127.029"/>
richten, was den Dichter zum Gestalten angereizt hat, was an <lbn="pse_127.030"/>
Weltstoff ihn ergriffen hat. Ganz äußerlich ist das der Stoff, <lbn="pse_127.031"/>
aber im dichterischen Kunstwerk ist er als solcher nie da, da <lbn="pse_127.032"/>
verbindet er sich mit der menschlichen Haltung des Schöpfers <lbn="pse_127.033"/>
zu einem Neuen. Wir nennen diesen Bereich, in dem das <lbn="pse_127.034"/>
Erlebnis ersteht, den Erlebniskreis. Welche Erlebniskreise das <lbn="pse_127.035"/>
sein können, ist für die Dichtungslehre nicht von großer Bedeutung, <lbn="pse_127.036"/>
wichtiger ist die Frage, wie weit von diesem Erlebniskreis <lbn="pse_127.037"/>
aus die Welt dichterisch umspannt und wie tief von <lbn="pse_127.038"/>
ihm aus die Gründe und das Ewige erhorcht werden können.
</p></div></div></body></text></TEI>
[127/0143]
pse_127.001
4. Oberfläche und Tiefe. Hier ist der Wertunterschied pse_127.002
von vornherein gegeben. Ein gestaltender Blick, der pse_127.003
nur über die Oberfläche der gegenübertretenden Welt pse_127.004
gleitet, wird sicher auch liebenswürdige und heitere Züge, ansehnliche pse_127.005
Weiten und manchen Reichtum ins Werk einformen pse_127.006
können. Aber es fehlt eben das, was das ästhetische Werk zu pse_127.007
einem hohen Wertträger macht: das Durchscheinen der pse_127.008
Tiefen. Erst wenn man unter dieser Oberfläche das Große, pse_127.009
Harte, Feste, das Bedrohende und Furchtbare, das Ewige und pse_127.010
Dauernde zu spüren bekommt, sind Bedingungen für ein pse_127.011
starkes Werterlebnis gegeben. Gerade hier aber muß in der pse_127.012
Betrachtung der Dichtung darauf geachtet werden, daß es um pse_127.013
eine Oberfläche und eine Tiefe geht, die in der künstlerischen pse_127.014
Gestaltung allein da ist. Ein »philosophischer« Roman kann pse_127.015
schwere Probleme traktieren und doch als Kunstwerk oberflächlich pse_127.016
sein, weil solche »schwere Stellen« nur wissenschaftliche pse_127.017
Einsprengsel sind und das übrige Werk seicht dahinplätschert. pse_127.018
Und ein scheinbar harmloses und heiteres Dichtwerk pse_127.019
kann als Kunstwerk ungeahnte Tiefen enthüllen. Man pse_127.020
denke auch an den Unterschied zwischen Gustav Freytags und pse_127.021
Wilhelm Raabes Romanschaffen. Nochmals sei wiederholt, pse_127.022
daß diese Kategorien sich nur auf das theoretisch herauslösbare pse_127.023
Weltbild beziehen und daß damit noch nichts Endgültiges pse_127.024
über den Wert einer bestimmten Dichtung gesagt ist. Wir pse_127.025
werden noch öfter auf die Wertfrage stoßen.
pse_127.026
Mit dem Weltbild der Dichtung und der damit verbundenen pse_127.027
Werthaftigkeit hängt auch das zusammen, was wir die pse_127.028
Erlebniskreise nennen. Man kann nämlich den Blick darauf pse_127.029
richten, was den Dichter zum Gestalten angereizt hat, was an pse_127.030
Weltstoff ihn ergriffen hat. Ganz äußerlich ist das der Stoff, pse_127.031
aber im dichterischen Kunstwerk ist er als solcher nie da, da pse_127.032
verbindet er sich mit der menschlichen Haltung des Schöpfers pse_127.033
zu einem Neuen. Wir nennen diesen Bereich, in dem das pse_127.034
Erlebnis ersteht, den Erlebniskreis. Welche Erlebniskreise das pse_127.035
sein können, ist für die Dichtungslehre nicht von großer Bedeutung, pse_127.036
wichtiger ist die Frage, wie weit von diesem Erlebniskreis pse_127.037
aus die Welt dichterisch umspannt und wie tief von pse_127.038
ihm aus die Gründe und das Ewige erhorcht werden können.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/143>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.