pse_160.001 Angst erfaßt uns. Oder ganz anders: Wir fühlen uns im Bestehenden pse_160.002 geborgen und gesichert.
pse_160.003 Der Mensch kann aber die Welt um sich auch als etwas pse_160.004 Verlaufendes, als einen Vorgang ähnlich dem Leben, das er in pse_160.005 sich fühlt, erfassen. Das ist die Aufgabe des Vorgangswortes, pse_160.006 wie wir das Verbum nennen können. Auch "schlafen" und pse_160.007 "ruhen" erscheinen als solche Vorgänge. Und wenn es raschelt pse_160.008 und geistert, immer spüren wir hier eine geheimnisvolle pse_160.009 Lebensregung. Wenn der Mensch diese Vorgänge selber erzeugt, pse_160.010 dann handelt er. Vorgangsworte des Handelns (pakken, pse_160.011 lesen, schreiten usw.) sind also nur eine besonders scharfe pse_160.012 Ausprägung dieser Erfassung.
pse_160.013 Schwierig ist die Frage nach dem tieferen Sinn des Adjektivs. pse_160.014 Aber man verbaut sich den Weg zu den dichterischen pse_160.015 Möglichkeiten dieser Wortart, wenn man etwa feststellt, daß pse_160.016 "lang", "groß", "breit" usw. bloß mehr Verhältnisangaben pse_160.017 sind. Warum soll nicht im langen Weg, den ein müder pse_160.018 Wanderer noch gehen muß, in der breiten und tiefen Gletscherspalte, pse_160.019 die ein Kletterer überspringen muß, mehr spürbar pse_160.020 werden als bloße Verhältnisse? Gerade auch an diesen pse_160.021 Worten erfassen wir den ursprünglichen Sinn des Adjektivs: pse_160.022 ein persönliches Dabeisein, ein Berührtwerden vom Erfahrungsstück, pse_160.023 das wir sprachlich prägen. Es ist bezeichnend, pse_160.024 daß wir auf alles, was uns beim Gegenübertreten einen starken pse_160.025 Eindruck macht, adjektivisch antworten: Herrlich! Furchtbar! pse_160.026 Lieblich! usw. Die Bezeichnung Eindruckswort dürfte pse_160.027 also doch nicht ganz schlecht sein. Ein besonderer Fall sind pse_160.028 hier in der Dichtung die Farbeindruckswörter. Blau, grün pse_160.029 usw. sind mit der Zeit auch Bezeichnungen für ganz bestimmte, pse_160.030 psychologisch feststellbare Empfindungen geworden, pse_160.031 man hat diese Empfindungen auf bestimmte physikalische pse_160.032 Reize zurückgeführt und endlich gar Farbworte als pse_160.033 Zeichen für bestimmte Lichtwellenlängen angesehen. Daher pse_160.034 ist man überrascht, wenn man in Dichtungen, besonders in pse_160.035 der expressionistischen Lyrik, etwa bei Trakl, "Verwendungen" pse_160.036 der Farbadjektive findet, die damit gar nichts zu pse_160.037 tun haben. Hier greifen Dichter eben auf den Ursprung zurück. pse_160.038 Wir alle wissen, wie der Mensch auf Farben stark
pse_160.001 Angst erfaßt uns. Oder ganz anders: Wir fühlen uns im Bestehenden pse_160.002 geborgen und gesichert.
pse_160.003 Der Mensch kann aber die Welt um sich auch als etwas pse_160.004 Verlaufendes, als einen Vorgang ähnlich dem Leben, das er in pse_160.005 sich fühlt, erfassen. Das ist die Aufgabe des Vorgangswortes, pse_160.006 wie wir das Verbum nennen können. Auch »schlafen« und pse_160.007 »ruhen« erscheinen als solche Vorgänge. Und wenn es raschelt pse_160.008 und geistert, immer spüren wir hier eine geheimnisvolle pse_160.009 Lebensregung. Wenn der Mensch diese Vorgänge selber erzeugt, pse_160.010 dann handelt er. Vorgangsworte des Handelns (pakken, pse_160.011 lesen, schreiten usw.) sind also nur eine besonders scharfe pse_160.012 Ausprägung dieser Erfassung.
pse_160.013 Schwierig ist die Frage nach dem tieferen Sinn des Adjektivs. pse_160.014 Aber man verbaut sich den Weg zu den dichterischen pse_160.015 Möglichkeiten dieser Wortart, wenn man etwa feststellt, daß pse_160.016 »lang«, »groß«, »breit« usw. bloß mehr Verhältnisangaben pse_160.017 sind. Warum soll nicht im langen Weg, den ein müder pse_160.018 Wanderer noch gehen muß, in der breiten und tiefen Gletscherspalte, pse_160.019 die ein Kletterer überspringen muß, mehr spürbar pse_160.020 werden als bloße Verhältnisse? Gerade auch an diesen pse_160.021 Worten erfassen wir den ursprünglichen Sinn des Adjektivs: pse_160.022 ein persönliches Dabeisein, ein Berührtwerden vom Erfahrungsstück, pse_160.023 das wir sprachlich prägen. Es ist bezeichnend, pse_160.024 daß wir auf alles, was uns beim Gegenübertreten einen starken pse_160.025 Eindruck macht, adjektivisch antworten: Herrlich! Furchtbar! pse_160.026 Lieblich! usw. Die Bezeichnung Eindruckswort dürfte pse_160.027 also doch nicht ganz schlecht sein. Ein besonderer Fall sind pse_160.028 hier in der Dichtung die Farbeindruckswörter. Blau, grün pse_160.029 usw. sind mit der Zeit auch Bezeichnungen für ganz bestimmte, pse_160.030 psychologisch feststellbare Empfindungen geworden, pse_160.031 man hat diese Empfindungen auf bestimmte physikalische pse_160.032 Reize zurückgeführt und endlich gar Farbworte als pse_160.033 Zeichen für bestimmte Lichtwellenlängen angesehen. Daher pse_160.034 ist man überrascht, wenn man in Dichtungen, besonders in pse_160.035 der expressionistischen Lyrik, etwa bei Trakl, »Verwendungen« pse_160.036 der Farbadjektive findet, die damit gar nichts zu pse_160.037 tun haben. Hier greifen Dichter eben auf den Ursprung zurück. pse_160.038 Wir alle wissen, wie der Mensch auf Farben stark
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Angst erfaßt uns. Oder ganz anders: Wir fühlen uns im Bestehenden pse_160.002
geborgen und gesichert.
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Der Mensch kann aber die Welt um sich auch als etwas pse_160.004
Verlaufendes, als einen Vorgang ähnlich dem Leben, das er in pse_160.005
sich fühlt, erfassen. Das ist die Aufgabe des Vorgangswortes, pse_160.006
wie wir das Verbum nennen können. Auch »schlafen« und pse_160.007
»ruhen« erscheinen als solche Vorgänge. Und wenn es raschelt pse_160.008
und geistert, immer spüren wir hier eine geheimnisvolle pse_160.009
Lebensregung. Wenn der Mensch diese Vorgänge selber erzeugt, pse_160.010
dann handelt er. Vorgangsworte des Handelns (pakken, pse_160.011
lesen, schreiten usw.) sind also nur eine besonders scharfe pse_160.012
Ausprägung dieser Erfassung.
pse_160.013
Schwierig ist die Frage nach dem tieferen Sinn des Adjektivs. pse_160.014
Aber man verbaut sich den Weg zu den dichterischen pse_160.015
Möglichkeiten dieser Wortart, wenn man etwa feststellt, daß pse_160.016
»lang«, »groß«, »breit« usw. bloß mehr Verhältnisangaben pse_160.017
sind. Warum soll nicht im langen Weg, den ein müder pse_160.018
Wanderer noch gehen muß, in der breiten und tiefen Gletscherspalte, pse_160.019
die ein Kletterer überspringen muß, mehr spürbar pse_160.020
werden als bloße Verhältnisse? Gerade auch an diesen pse_160.021
Worten erfassen wir den ursprünglichen Sinn des Adjektivs: pse_160.022
ein persönliches Dabeisein, ein Berührtwerden vom Erfahrungsstück, pse_160.023
das wir sprachlich prägen. Es ist bezeichnend, pse_160.024
daß wir auf alles, was uns beim Gegenübertreten einen starken pse_160.025
Eindruck macht, adjektivisch antworten: Herrlich! Furchtbar! pse_160.026
Lieblich! usw. Die Bezeichnung Eindruckswort dürfte pse_160.027
also doch nicht ganz schlecht sein. Ein besonderer Fall sind pse_160.028
hier in der Dichtung die Farbeindruckswörter. Blau, grün pse_160.029
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psychologisch feststellbare Empfindungen geworden, pse_160.031
man hat diese Empfindungen auf bestimmte physikalische pse_160.032
Reize zurückgeführt und endlich gar Farbworte als pse_160.033
Zeichen für bestimmte Lichtwellenlängen angesehen. Daher pse_160.034
ist man überrascht, wenn man in Dichtungen, besonders in pse_160.035
der expressionistischen Lyrik, etwa bei Trakl, »Verwendungen« pse_160.036
der Farbadjektive findet, die damit gar nichts zu pse_160.037
tun haben. Hier greifen Dichter eben auf den Ursprung zurück. pse_160.038
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/176>, abgerufen am 21.11.2024.
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