pse_179.001 das an folgender Beispielreihe ersehen. "Reiße das Auge, das pse_179.002 dich ärgert, aus." Gewiß wirkt durch den Gehalt des Wortes pse_179.003 "ärgern" der Gliedsatz schon stärker vorganghaft als es ein pse_179.004 bloßes Eindruckswort tun könnte (etwa: "ärgerlich"). Aber pse_179.005 impulsiver wirkt schon: "Ärgert dich dein Auge, reiß es aus", pse_179.006 besonders weil man hier auch noch die drängende Frage mithören pse_179.007 könnte. Die wirksamste Form aber erhält das Ganze, pse_179.008 wenn nun der Gliedsatz eine deutliche, scharf einsetzende und pse_179.009 abschließende und damit zugleich unmittelbar weiterführende pse_179.010 Form erhält: "Wenn dich dein Auge ärgert, reiß es aus."
pse_179.011 Sprache als Lautung
pse_179.012 Unter Lautung verstehen wir alles, was die Sprache als pse_179.013 Hörbares bietet. Mit dem Wort wollen wir dieses sprachlich pse_179.014 Hörbare von den anderen Schallformen abheben. Das pse_179.015 Charakteristische an den sprachlichen Schallformen, also an pse_179.016 der Lautung, ist das Abgrenzende, die deutliche Gesondertheit pse_179.017 und Faßbarkeit der einzelnen Gebilde, das, was man die pse_179.018 Artikulation nennt. Das sind zunächst die Laute. Sie sind nichts pse_179.019 nur Physisches, sondern bereits geistige Leistung, nämlich auswählendes pse_179.020 Herausarbeiten besonderer Stellen im Lautstrom, pse_179.021 also Bestimmungen an den Silben. So entsteht eine Spannung pse_179.022 zwischen Naturhaftem und Geistigem in den Lauten. Silben pse_179.023 sind die kleinsten Glieder des hörbaren Aufbaus der Sprache. pse_179.024 Gewisse Teile an der Wortgestalt sind sinnbedeutsam, andere pse_179.025 nicht; es ist gleichgültig, mit welchem r-Laut im Deutschen pse_179.026 ein Wort gesprochen wird, aber ob ich b oder p spreche, pse_179.027 macht einen Bedeutungsunterschied aus (Bein -- Pein usw.). pse_179.028 Man denke auch an den Unterschied von vous aurez und vous pse_179.029 saurez im Französischen, der allein in der Aussprache von s pse_179.030 gestaltet ist. Solche sinnbedeutsame Teile nennt man Phoneme. pse_179.031 Aber neben den Lauten, vor allem als Phonemen, gibt es pse_179.032 noch anderes, was zur Lautung gehört, nämlich alle die pse_179.033 Kräfte, die sich erst im zeitlichen Ablauf des Redens zeigen: pse_179.034 Rhythmus, Sprechart, Reime usw. Diese Aufzählung ist unsystematisch. pse_179.035 Die Einheit aller dieser Kräfte der Lautung in pse_179.036 einem Sprachwerk nennen wir dessen Lautungsgestalt.
pse_179.001 das an folgender Beispielreihe ersehen. »Reiße das Auge, das pse_179.002 dich ärgert, aus.« Gewiß wirkt durch den Gehalt des Wortes pse_179.003 »ärgern« der Gliedsatz schon stärker vorganghaft als es ein pse_179.004 bloßes Eindruckswort tun könnte (etwa: »ärgerlich«). Aber pse_179.005 impulsiver wirkt schon: »Ärgert dich dein Auge, reiß es aus«, pse_179.006 besonders weil man hier auch noch die drängende Frage mithören pse_179.007 könnte. Die wirksamste Form aber erhält das Ganze, pse_179.008 wenn nun der Gliedsatz eine deutliche, scharf einsetzende und pse_179.009 abschließende und damit zugleich unmittelbar weiterführende pse_179.010 Form erhält: »Wenn dich dein Auge ärgert, reiß es aus.«
pse_179.011 Sprache als Lautung
pse_179.012 Unter Lautung verstehen wir alles, was die Sprache als pse_179.013 Hörbares bietet. Mit dem Wort wollen wir dieses sprachlich pse_179.014 Hörbare von den anderen Schallformen abheben. Das pse_179.015 Charakteristische an den sprachlichen Schallformen, also an pse_179.016 der Lautung, ist das Abgrenzende, die deutliche Gesondertheit pse_179.017 und Faßbarkeit der einzelnen Gebilde, das, was man die pse_179.018 Artikulation nennt. Das sind zunächst die Laute. Sie sind nichts pse_179.019 nur Physisches, sondern bereits geistige Leistung, nämlich auswählendes pse_179.020 Herausarbeiten besonderer Stellen im Lautstrom, pse_179.021 also Bestimmungen an den Silben. So entsteht eine Spannung pse_179.022 zwischen Naturhaftem und Geistigem in den Lauten. Silben pse_179.023 sind die kleinsten Glieder des hörbaren Aufbaus der Sprache. pse_179.024 Gewisse Teile an der Wortgestalt sind sinnbedeutsam, andere pse_179.025 nicht; es ist gleichgültig, mit welchem r-Laut im Deutschen pse_179.026 ein Wort gesprochen wird, aber ob ich b oder p spreche, pse_179.027 macht einen Bedeutungsunterschied aus (Bein — Pein usw.). pse_179.028 Man denke auch an den Unterschied von vous aurez und vous pse_179.029 saurez im Französischen, der allein in der Aussprache von s pse_179.030 gestaltet ist. Solche sinnbedeutsame Teile nennt man Phoneme. pse_179.031 Aber neben den Lauten, vor allem als Phonemen, gibt es pse_179.032 noch anderes, was zur Lautung gehört, nämlich alle die pse_179.033 Kräfte, die sich erst im zeitlichen Ablauf des Redens zeigen: pse_179.034 Rhythmus, Sprechart, Reime usw. Diese Aufzählung ist unsystematisch. pse_179.035 Die Einheit aller dieser Kräfte der Lautung in pse_179.036 einem Sprachwerk nennen wir dessen Lautungsgestalt.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0195"n="179"/><lbn="pse_179.001"/>
das an folgender Beispielreihe ersehen. »Reiße das Auge, das <lbn="pse_179.002"/>
dich ärgert, aus.« Gewiß wirkt durch den Gehalt des Wortes <lbn="pse_179.003"/>
»ärgern« der Gliedsatz schon stärker vorganghaft als es ein <lbn="pse_179.004"/>
bloßes Eindruckswort tun könnte (etwa: »ärgerlich«). Aber <lbn="pse_179.005"/>
impulsiver wirkt schon: »Ärgert dich dein Auge, reiß es aus«, <lbn="pse_179.006"/>
besonders weil man hier auch noch die drängende Frage mithören <lbn="pse_179.007"/>
könnte. Die wirksamste Form aber erhält das Ganze, <lbn="pse_179.008"/>
wenn nun der Gliedsatz eine deutliche, scharf einsetzende und <lbn="pse_179.009"/>
abschließende und damit zugleich unmittelbar weiterführende <lbn="pse_179.010"/>
Form erhält: »Wenn dich dein Auge ärgert, reiß es aus.«</p></div><divn="4"><lbn="pse_179.011"/><head><hirendition="#c"><hirendition="#i">Sprache als Lautung</hi></hi></head><p><lbn="pse_179.012"/>
Unter Lautung verstehen wir alles, was die Sprache als <lbn="pse_179.013"/>
Hörbares bietet. Mit dem Wort wollen wir dieses sprachlich <lbn="pse_179.014"/>
Hörbare von den anderen Schallformen abheben. Das <lbn="pse_179.015"/>
Charakteristische an den sprachlichen Schallformen, also an <lbn="pse_179.016"/>
der Lautung, ist das Abgrenzende, die deutliche Gesondertheit <lbn="pse_179.017"/>
und Faßbarkeit der einzelnen Gebilde, das, was man die <lbn="pse_179.018"/>
Artikulation nennt. Das sind zunächst die Laute. Sie sind nichts <lbn="pse_179.019"/>
nur Physisches, sondern bereits geistige Leistung, nämlich auswählendes <lbn="pse_179.020"/>
Herausarbeiten besonderer Stellen im Lautstrom, <lbn="pse_179.021"/>
also Bestimmungen an den Silben. So entsteht eine Spannung <lbn="pse_179.022"/>
zwischen Naturhaftem und Geistigem in den Lauten. Silben <lbn="pse_179.023"/>
sind die kleinsten Glieder des hörbaren Aufbaus der Sprache. <lbn="pse_179.024"/>
Gewisse Teile an der Wortgestalt sind sinnbedeutsam, andere <lbn="pse_179.025"/>
nicht; es ist gleichgültig, mit welchem r-Laut im Deutschen <lbn="pse_179.026"/>
ein Wort gesprochen wird, aber ob ich b oder p spreche, <lbn="pse_179.027"/>
macht einen Bedeutungsunterschied aus (Bein — Pein usw.). <lbn="pse_179.028"/>
Man denke auch an den Unterschied von <hirendition="#i">vous aurez</hi> und <hirendition="#i">vous <lbn="pse_179.029"/>
saurez</hi> im Französischen, der allein in der Aussprache von s <lbn="pse_179.030"/>
gestaltet ist. Solche sinnbedeutsame Teile nennt man Phoneme. <lbn="pse_179.031"/>
Aber neben den Lauten, vor allem als Phonemen, gibt es <lbn="pse_179.032"/>
noch anderes, was zur Lautung gehört, nämlich alle die <lbn="pse_179.033"/>
Kräfte, die sich erst im zeitlichen Ablauf des Redens zeigen: <lbn="pse_179.034"/>
Rhythmus, Sprechart, Reime usw. Diese Aufzählung ist unsystematisch. <lbn="pse_179.035"/>
Die Einheit aller dieser Kräfte der Lautung in <lbn="pse_179.036"/>
einem Sprachwerk nennen wir dessen Lautungsgestalt.</p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[179/0195]
pse_179.001
das an folgender Beispielreihe ersehen. »Reiße das Auge, das pse_179.002
dich ärgert, aus.« Gewiß wirkt durch den Gehalt des Wortes pse_179.003
»ärgern« der Gliedsatz schon stärker vorganghaft als es ein pse_179.004
bloßes Eindruckswort tun könnte (etwa: »ärgerlich«). Aber pse_179.005
impulsiver wirkt schon: »Ärgert dich dein Auge, reiß es aus«, pse_179.006
besonders weil man hier auch noch die drängende Frage mithören pse_179.007
könnte. Die wirksamste Form aber erhält das Ganze, pse_179.008
wenn nun der Gliedsatz eine deutliche, scharf einsetzende und pse_179.009
abschließende und damit zugleich unmittelbar weiterführende pse_179.010
Form erhält: »Wenn dich dein Auge ärgert, reiß es aus.«
pse_179.011
Sprache als Lautung pse_179.012
Unter Lautung verstehen wir alles, was die Sprache als pse_179.013
Hörbares bietet. Mit dem Wort wollen wir dieses sprachlich pse_179.014
Hörbare von den anderen Schallformen abheben. Das pse_179.015
Charakteristische an den sprachlichen Schallformen, also an pse_179.016
der Lautung, ist das Abgrenzende, die deutliche Gesondertheit pse_179.017
und Faßbarkeit der einzelnen Gebilde, das, was man die pse_179.018
Artikulation nennt. Das sind zunächst die Laute. Sie sind nichts pse_179.019
nur Physisches, sondern bereits geistige Leistung, nämlich auswählendes pse_179.020
Herausarbeiten besonderer Stellen im Lautstrom, pse_179.021
also Bestimmungen an den Silben. So entsteht eine Spannung pse_179.022
zwischen Naturhaftem und Geistigem in den Lauten. Silben pse_179.023
sind die kleinsten Glieder des hörbaren Aufbaus der Sprache. pse_179.024
Gewisse Teile an der Wortgestalt sind sinnbedeutsam, andere pse_179.025
nicht; es ist gleichgültig, mit welchem r-Laut im Deutschen pse_179.026
ein Wort gesprochen wird, aber ob ich b oder p spreche, pse_179.027
macht einen Bedeutungsunterschied aus (Bein — Pein usw.). pse_179.028
Man denke auch an den Unterschied von vous aurez und vous pse_179.029
saurez im Französischen, der allein in der Aussprache von s pse_179.030
gestaltet ist. Solche sinnbedeutsame Teile nennt man Phoneme. pse_179.031
Aber neben den Lauten, vor allem als Phonemen, gibt es pse_179.032
noch anderes, was zur Lautung gehört, nämlich alle die pse_179.033
Kräfte, die sich erst im zeitlichen Ablauf des Redens zeigen: pse_179.034
Rhythmus, Sprechart, Reime usw. Diese Aufzählung ist unsystematisch. pse_179.035
Die Einheit aller dieser Kräfte der Lautung in pse_179.036
einem Sprachwerk nennen wir dessen Lautungsgestalt.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/195>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.