pse_005.001 und Kritiker, vorab Friedrich Schlegel und Novalis, pse_005.002 geben ihrer Darstellung über Dichtung ein deutliches philosophisches pse_005.003 Gepräge. Damit ist zweierlei grundlegend geändert: pse_005.004 Poetik verliert ihren normativen Charakter als Lehranweisung pse_005.005 für eine vollkommene dichterische Technik, denn pse_005.006 das Wesentliche der Dichtung wird nun in ihrer Bindung an pse_005.007 die schöpferischen Kräfte des genialen Menschen gesehen. Zugleich pse_005.008 aber wendet man nun -- und zwar deutlich mit der pse_005.009 Frühromantik -- den Blick ab von der Dichtung als einem pse_005.010 Gebilde bestimmter Struktur, das auf tiefe Wirkung angelegt pse_005.011 ist, und sieht in ihr mehr die Offenbarung von Weltanschauungen. pse_005.012 Damit eben gerät sie eindeutig in den Bannkreis der pse_005.013 Philosophie.
pse_005.014 Das führt nun zu einer verwirrenden Aufspaltung der pse_005.015 Fragen im 19. Jahrhundert: jede philosophische Richtung pse_005.016 stellt gleichsam ihre eigene Ästhetik und Poetik auf, dazu pse_005.017 kommen reiche Studien zur Poetik von Dichtern (z. B. Grillparzer, pse_005.018 Hebbel) und Programme von Gruppen, die auch pse_005.019 Feststellungen zum Wesen und den Erscheinungsweisen der pse_005.020 Dichtung enthalten. Drei Richtungen lassen sich jedoch herausschälen, pse_005.021 die auch für die spätere Entwicklung der Poetik pse_005.022 wichtig sind. Einmal die Richtung Hegels, vertreten vor pse_005.023 allem durch Moritz Carriere, die in den konkreten Arten pse_005.024 der Dichtung die Verwirklichung von Gattungsideen sehen pse_005.025 will, dann der fürs 19. Jahrhundert so bezeichnende Empirismus, pse_005.026 der das Sammeln und Ordnen von reinen Erfahrungen pse_005.027 als wesentliche wissenschaftliche Tätigkeit ansieht; er führt pse_005.028 daher die Dichtung auf geschichtliche und psychologische pse_005.029 Gegebenheiten zurück. Seine Vertreter sind vor allem Fr. Th. pse_005.030 Vischer und W. Scherer, der aber noch stark von romantischen pse_005.031 Kräften bedingt ist und für den Ehrfurcht vor dem Schöpferischen, pse_005.032 Gefühl und sittliche Blickrichtung wichtig sind. Endlich pse_005.033 als dritte Richtung die Bemühungen, die sich aus der pse_005.034 fortschreitenden Vertiefung der Psychologie ergeben; sie pse_005.035 führen schon ins 20. Jahrhundert herüber. Der Ausgangspunkt pse_005.036 ist Dilthey mit seiner geisteswissenschaftlichen Psychologie, pse_005.037 der also nicht mehr Elemente psychischer Vorgänge zur pse_005.038 Grundlage nimmt, sondern die seelischen und geistigen Vorgänge,
pse_005.001 und Kritiker, vorab Friedrich Schlegel und Novalis, pse_005.002 geben ihrer Darstellung über Dichtung ein deutliches philosophisches pse_005.003 Gepräge. Damit ist zweierlei grundlegend geändert: pse_005.004 Poetik verliert ihren normativen Charakter als Lehranweisung pse_005.005 für eine vollkommene dichterische Technik, denn pse_005.006 das Wesentliche der Dichtung wird nun in ihrer Bindung an pse_005.007 die schöpferischen Kräfte des genialen Menschen gesehen. Zugleich pse_005.008 aber wendet man nun — und zwar deutlich mit der pse_005.009 Frühromantik — den Blick ab von der Dichtung als einem pse_005.010 Gebilde bestimmter Struktur, das auf tiefe Wirkung angelegt pse_005.011 ist, und sieht in ihr mehr die Offenbarung von Weltanschauungen. pse_005.012 Damit eben gerät sie eindeutig in den Bannkreis der pse_005.013 Philosophie.
pse_005.014 Das führt nun zu einer verwirrenden Aufspaltung der pse_005.015 Fragen im 19. Jahrhundert: jede philosophische Richtung pse_005.016 stellt gleichsam ihre eigene Ästhetik und Poetik auf, dazu pse_005.017 kommen reiche Studien zur Poetik von Dichtern (z. B. Grillparzer, pse_005.018 Hebbel) und Programme von Gruppen, die auch pse_005.019 Feststellungen zum Wesen und den Erscheinungsweisen der pse_005.020 Dichtung enthalten. Drei Richtungen lassen sich jedoch herausschälen, pse_005.021 die auch für die spätere Entwicklung der Poetik pse_005.022 wichtig sind. Einmal die Richtung Hegels, vertreten vor pse_005.023 allem durch Moritz Carrière, die in den konkreten Arten pse_005.024 der Dichtung die Verwirklichung von Gattungsideen sehen pse_005.025 will, dann der fürs 19. Jahrhundert so bezeichnende Empirismus, pse_005.026 der das Sammeln und Ordnen von reinen Erfahrungen pse_005.027 als wesentliche wissenschaftliche Tätigkeit ansieht; er führt pse_005.028 daher die Dichtung auf geschichtliche und psychologische pse_005.029 Gegebenheiten zurück. Seine Vertreter sind vor allem Fr. Th. pse_005.030 Vischer und W. Scherer, der aber noch stark von romantischen pse_005.031 Kräften bedingt ist und für den Ehrfurcht vor dem Schöpferischen, pse_005.032 Gefühl und sittliche Blickrichtung wichtig sind. Endlich pse_005.033 als dritte Richtung die Bemühungen, die sich aus der pse_005.034 fortschreitenden Vertiefung der Psychologie ergeben; sie pse_005.035 führen schon ins 20. Jahrhundert herüber. Der Ausgangspunkt pse_005.036 ist Dilthey mit seiner geisteswissenschaftlichen Psychologie, pse_005.037 der also nicht mehr Elemente psychischer Vorgänge zur pse_005.038 Grundlage nimmt, sondern die seelischen und geistigen Vorgänge,
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0021"n="5"/><lbn="pse_005.001"/>
und Kritiker, vorab Friedrich Schlegel und Novalis, <lbn="pse_005.002"/>
geben ihrer Darstellung über Dichtung ein deutliches philosophisches <lbn="pse_005.003"/>
Gepräge. Damit ist zweierlei grundlegend geändert: <lbn="pse_005.004"/>
Poetik verliert ihren normativen Charakter als Lehranweisung <lbn="pse_005.005"/>
für eine vollkommene dichterische Technik, denn <lbn="pse_005.006"/>
das Wesentliche der Dichtung wird nun in ihrer Bindung an <lbn="pse_005.007"/>
die schöpferischen Kräfte des genialen Menschen gesehen. Zugleich <lbn="pse_005.008"/>
aber wendet man nun — und zwar deutlich mit der <lbn="pse_005.009"/>
Frühromantik — den Blick ab von der Dichtung als einem <lbn="pse_005.010"/>
Gebilde bestimmter Struktur, das auf tiefe Wirkung angelegt <lbn="pse_005.011"/>
ist, und sieht in ihr mehr die Offenbarung von Weltanschauungen. <lbn="pse_005.012"/>
Damit eben gerät sie eindeutig in den Bannkreis der <lbn="pse_005.013"/>
Philosophie.</p><p><lbn="pse_005.014"/>
Das führt nun zu einer verwirrenden Aufspaltung der <lbn="pse_005.015"/>
Fragen im 19. Jahrhundert: jede philosophische Richtung <lbn="pse_005.016"/>
stellt gleichsam ihre eigene Ästhetik und Poetik auf, dazu <lbn="pse_005.017"/>
kommen reiche Studien zur Poetik von Dichtern (z. B. Grillparzer, <lbn="pse_005.018"/>
Hebbel) und Programme von Gruppen, die auch <lbn="pse_005.019"/>
Feststellungen zum Wesen und den Erscheinungsweisen der <lbn="pse_005.020"/>
Dichtung enthalten. Drei Richtungen lassen sich jedoch herausschälen, <lbn="pse_005.021"/>
die auch für die spätere Entwicklung der Poetik <lbn="pse_005.022"/>
wichtig sind. Einmal die Richtung Hegels, vertreten vor <lbn="pse_005.023"/>
allem durch Moritz Carrière, die in den konkreten Arten <lbn="pse_005.024"/>
der Dichtung die Verwirklichung von Gattungsideen sehen <lbn="pse_005.025"/>
will, dann der fürs 19. Jahrhundert so bezeichnende Empirismus, <lbn="pse_005.026"/>
der das Sammeln und Ordnen von reinen Erfahrungen <lbn="pse_005.027"/>
als wesentliche wissenschaftliche Tätigkeit ansieht; er führt <lbn="pse_005.028"/>
daher die Dichtung auf geschichtliche und psychologische <lbn="pse_005.029"/>
Gegebenheiten zurück. Seine Vertreter sind vor allem Fr. Th. <lbn="pse_005.030"/>
Vischer und W. Scherer, der aber noch stark von romantischen <lbn="pse_005.031"/>
Kräften bedingt ist und für den Ehrfurcht vor dem Schöpferischen, <lbn="pse_005.032"/>
Gefühl und sittliche Blickrichtung wichtig sind. Endlich <lbn="pse_005.033"/>
als dritte Richtung die Bemühungen, die sich aus der <lbn="pse_005.034"/>
fortschreitenden Vertiefung der Psychologie ergeben; sie <lbn="pse_005.035"/>
führen schon ins 20. Jahrhundert herüber. Der Ausgangspunkt <lbn="pse_005.036"/>
ist Dilthey mit seiner geisteswissenschaftlichen Psychologie, <lbn="pse_005.037"/>
der also nicht mehr Elemente psychischer Vorgänge zur <lbn="pse_005.038"/>
Grundlage nimmt, sondern die seelischen und geistigen Vorgänge,
</p></div></body></text></TEI>
[5/0021]
pse_005.001
und Kritiker, vorab Friedrich Schlegel und Novalis, pse_005.002
geben ihrer Darstellung über Dichtung ein deutliches philosophisches pse_005.003
Gepräge. Damit ist zweierlei grundlegend geändert: pse_005.004
Poetik verliert ihren normativen Charakter als Lehranweisung pse_005.005
für eine vollkommene dichterische Technik, denn pse_005.006
das Wesentliche der Dichtung wird nun in ihrer Bindung an pse_005.007
die schöpferischen Kräfte des genialen Menschen gesehen. Zugleich pse_005.008
aber wendet man nun — und zwar deutlich mit der pse_005.009
Frühromantik — den Blick ab von der Dichtung als einem pse_005.010
Gebilde bestimmter Struktur, das auf tiefe Wirkung angelegt pse_005.011
ist, und sieht in ihr mehr die Offenbarung von Weltanschauungen. pse_005.012
Damit eben gerät sie eindeutig in den Bannkreis der pse_005.013
Philosophie.
pse_005.014
Das führt nun zu einer verwirrenden Aufspaltung der pse_005.015
Fragen im 19. Jahrhundert: jede philosophische Richtung pse_005.016
stellt gleichsam ihre eigene Ästhetik und Poetik auf, dazu pse_005.017
kommen reiche Studien zur Poetik von Dichtern (z. B. Grillparzer, pse_005.018
Hebbel) und Programme von Gruppen, die auch pse_005.019
Feststellungen zum Wesen und den Erscheinungsweisen der pse_005.020
Dichtung enthalten. Drei Richtungen lassen sich jedoch herausschälen, pse_005.021
die auch für die spätere Entwicklung der Poetik pse_005.022
wichtig sind. Einmal die Richtung Hegels, vertreten vor pse_005.023
allem durch Moritz Carrière, die in den konkreten Arten pse_005.024
der Dichtung die Verwirklichung von Gattungsideen sehen pse_005.025
will, dann der fürs 19. Jahrhundert so bezeichnende Empirismus, pse_005.026
der das Sammeln und Ordnen von reinen Erfahrungen pse_005.027
als wesentliche wissenschaftliche Tätigkeit ansieht; er führt pse_005.028
daher die Dichtung auf geschichtliche und psychologische pse_005.029
Gegebenheiten zurück. Seine Vertreter sind vor allem Fr. Th. pse_005.030
Vischer und W. Scherer, der aber noch stark von romantischen pse_005.031
Kräften bedingt ist und für den Ehrfurcht vor dem Schöpferischen, pse_005.032
Gefühl und sittliche Blickrichtung wichtig sind. Endlich pse_005.033
als dritte Richtung die Bemühungen, die sich aus der pse_005.034
fortschreitenden Vertiefung der Psychologie ergeben; sie pse_005.035
führen schon ins 20. Jahrhundert herüber. Der Ausgangspunkt pse_005.036
ist Dilthey mit seiner geisteswissenschaftlichen Psychologie, pse_005.037
der also nicht mehr Elemente psychischer Vorgänge zur pse_005.038
Grundlage nimmt, sondern die seelischen und geistigen Vorgänge,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/21>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.