pse_202.001 Form Freiheiten und Bewegung zu. Schon die englische Abwandlung pse_202.002 mit ihrer Höhe in Shakespeares Sonetten zeigt pse_202.003 das: drei vierzeilige Strophen, jede mit gekreuzter Reimfolge pse_202.004 (abab, cdcd, efef) werden deutlich abgeschlossen durch pse_202.005 ein Schlußreimpaar, das auch inhaltlich Höhe und Zusammenfassung pse_202.006 bringt. Die strenge italienische Form bewegt sich in pse_202.007 Aufgesang und Abgesang, die zwei Vierzeiler stehen den pse_202.008 zwei Dreizeilern gegenüber und verlangen auch vom Gehalt pse_202.009 den zweigliedrigen Aufbau. Man hat aber neuestens erkannt, pse_202.010 daß gerade bei den großen deutschen Sonettmeistern des pse_202.011 Barocks (bes. Gryphius) eine weitere Gestalt zu beobachten pse_202.012 ist: Setzung eines Themas, Durchführung in mannigfacher pse_202.013 Modulation in den Mittelstrophen und Krönung und zusammenklingender pse_202.014 Abschluß. Also eine dauernde Fortbewegung, pse_202.015 die an die Fuge erinnert, den starren überkommenen pse_202.016 Aufbau gleichsam überspült und bis zu einem gewissen pse_202.017 Grad an die englische Form erinnert. Immer aber bleibt als pse_202.018 Unterton die Grundform merkbar. Das Fortströmen steht pse_202.019 in Spannung zur festgeprägten Gestalt; auch so erscheint pse_202.020 das Sonett als ein Symbol jeder sprachkünstlerischen Problematik: pse_202.021 zeitlicher Ablauf und dauernde Form.
pse_202.022 Die Stilkräfte
pse_202.023 Die bisher betrachteten Elemente des Stils wirken im dichterischen pse_202.024 Kunstwerk nicht jedes für sich in Vereinzelung, so pse_202.025 daß ein Mosaik der mannigfaltigsten Stilzüge entstünde, sondern pse_202.026 sie fügen sich zu höheren Gebilden von deutlicher und pse_202.027 abhebbarer Geprägtheit zusammen. Wir nennen diese Gebilde, pse_202.028 in denen die bisher betrachteten Elemente erst sinnvoll pse_202.029 im Ganzen wirken, Stilkräfte.
pse_202.030 Ausruf, Anruf, Dynamik des Redevorgangs
pse_202.031 Die ersten zwei Stilkräfte erwachsen deutlich aus Ursituationen pse_202.032 des Sprechens. Denn eine erste sprachliche Gefühlsgestaltung pse_202.033 ist der Ausruf. Natürlich sehen wir von unartikulierten
pse_202.001 Form Freiheiten und Bewegung zu. Schon die englische Abwandlung pse_202.002 mit ihrer Höhe in Shakespeares Sonetten zeigt pse_202.003 das: drei vierzeilige Strophen, jede mit gekreuzter Reimfolge pse_202.004 (abab, cdcd, efef) werden deutlich abgeschlossen durch pse_202.005 ein Schlußreimpaar, das auch inhaltlich Höhe und Zusammenfassung pse_202.006 bringt. Die strenge italienische Form bewegt sich in pse_202.007 Aufgesang und Abgesang, die zwei Vierzeiler stehen den pse_202.008 zwei Dreizeilern gegenüber und verlangen auch vom Gehalt pse_202.009 den zweigliedrigen Aufbau. Man hat aber neuestens erkannt, pse_202.010 daß gerade bei den großen deutschen Sonettmeistern des pse_202.011 Barocks (bes. Gryphius) eine weitere Gestalt zu beobachten pse_202.012 ist: Setzung eines Themas, Durchführung in mannigfacher pse_202.013 Modulation in den Mittelstrophen und Krönung und zusammenklingender pse_202.014 Abschluß. Also eine dauernde Fortbewegung, pse_202.015 die an die Fuge erinnert, den starren überkommenen pse_202.016 Aufbau gleichsam überspült und bis zu einem gewissen pse_202.017 Grad an die englische Form erinnert. Immer aber bleibt als pse_202.018 Unterton die Grundform merkbar. Das Fortströmen steht pse_202.019 in Spannung zur festgeprägten Gestalt; auch so erscheint pse_202.020 das Sonett als ein Symbol jeder sprachkünstlerischen Problematik: pse_202.021 zeitlicher Ablauf und dauernde Form.
pse_202.022 Die Stilkräfte
pse_202.023 Die bisher betrachteten Elemente des Stils wirken im dichterischen pse_202.024 Kunstwerk nicht jedes für sich in Vereinzelung, so pse_202.025 daß ein Mosaik der mannigfaltigsten Stilzüge entstünde, sondern pse_202.026 sie fügen sich zu höheren Gebilden von deutlicher und pse_202.027 abhebbarer Geprägtheit zusammen. Wir nennen diese Gebilde, pse_202.028 in denen die bisher betrachteten Elemente erst sinnvoll pse_202.029 im Ganzen wirken, Stilkräfte.
pse_202.030 Ausruf, Anruf, Dynamik des Redevorgangs
pse_202.031 Die ersten zwei Stilkräfte erwachsen deutlich aus Ursituationen pse_202.032 des Sprechens. Denn eine erste sprachliche Gefühlsgestaltung pse_202.033 ist der Ausruf. Natürlich sehen wir von unartikulierten
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Aufgesang und Abgesang, die zwei Vierzeiler stehen den pse_202.008
zwei Dreizeilern gegenüber und verlangen auch vom Gehalt pse_202.009
den zweigliedrigen Aufbau. Man hat aber neuestens erkannt, pse_202.010
daß gerade bei den großen deutschen Sonettmeistern des pse_202.011
Barocks (bes. Gryphius) eine weitere Gestalt zu beobachten pse_202.012
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Modulation in den Mittelstrophen und Krönung und zusammenklingender pse_202.014
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Unterton die Grundform merkbar. Das Fortströmen steht pse_202.019
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zeitlicher Ablauf und dauernde Form.
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Die bisher betrachteten Elemente des Stils wirken im dichterischen pse_202.024
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abhebbarer Geprägtheit zusammen. Wir nennen diese Gebilde, pse_202.028
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/218>, abgerufen am 25.11.2024.
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