Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_205.001
Segnende Blitze pse_205.002
Über die Erde sät, pse_205.003
Küß' ich den letzten pse_205.004
Saum seines Kleides, pse_205.005
Kindliche Schauer pse_205.006
Treu in der Brust.

pse_205.007
   (Goethe, Grenzen der Menschheit)

pse_205.008

In der Prosa vergleiche man die Unterschiede zwischen Goethe, pse_205.009
Kleist, Stifter, G. Keller, Th. Mann und Broch.

pse_205.010
Das sprachliche Bild

pse_205.011
Eine grundlegende Stilkraft, die nirgends in einer Dichtung pse_205.012
fehlen kann, ist das sprachliche Bild. Wir dürfen bei pse_205.013
diesem Fachausdruck nicht an das Optische denken, sondern pse_205.014
an den Ausdruck "Gebilde". Der Mensch umgrenzt das Zustoßende pse_205.015
zu Gebilden. Dieses Umgrenzen ist abhängig einerseits pse_205.016
vom Inneren des Menschen, es offenbart also Tiefstes, pse_205.017
anderseits vom bereits errungenen Weltbild, das als Unterlage pse_205.018
neue Umgrenzungen ausrichtet. Natürlich geben Umwelt pse_205.019
und Mitwelt auch Antriebe für dieses Bilden als ein pse_205.020
Anpacken des Gegenüber. So hängt das Bilden gerade mit pse_205.021
der den Menschen auszeichnenden Weltoffenheit seines gesamten pse_205.022
Zuwendungsapparates zusammen. Wir müssen zwischen pse_205.023
sprachlichem Bild und dichterischem Bild unterscheiden. pse_205.024
Das sprachliche ist ursprünglicher, findet sich auch im pse_205.025
Nichtdichterischen, wird aber oft erst in der Dichtung voll pse_205.026
wirksam. Aus sprachlichen Bildern bauen sich auch die dichterischen pse_205.027
auf. Sie sind reicher und ausgedehnter. Ein Landschaftsbild, pse_205.028
die Schilderung eines Menschen usw. bauen sich pse_205.029
aus sprachlichen Bildern auf, aber da sie trotz ihres Umfanges pse_205.030
eine deutliche Geschlossenheit aufweisen, nennen wir sie Bilder. pse_205.031
Wir wollen aber festhalten, daß die sprachlichen Bilder pse_205.032
eine entscheidende Stilkraft in der Dichtung sind.

pse_205.033
In einer allgemeinen Betrachtung muß zuerst aufs Wesen des pse_205.034
sprachlichen Bildes geachtet werden. Wir können ihm von pse_205.035
zwei Seiten näherkommen. Zuerst von unten auf: im Zusammenwachsen pse_205.036
einzelner Gebilde entsteht ein neues von pse_205.037
bestimmter Umgrenztheit. Im kleinsten ist schon ein Wort pse_205.038
ein sprachliches Bild; denn in ihm ist ja -- gehaltlich und lautlich

pse_205.001
Segnende Blitze pse_205.002
Über die Erde sät, pse_205.003
Küß' ich den letzten pse_205.004
Saum seines Kleides, pse_205.005
Kindliche Schauer pse_205.006
Treu in der Brust.

pse_205.007
   (Goethe, Grenzen der Menschheit)

pse_205.008

In der Prosa vergleiche man die Unterschiede zwischen Goethe, pse_205.009
Kleist, Stifter, G. Keller, Th. Mann und Broch.

pse_205.010
Das sprachliche Bild

pse_205.011
Eine grundlegende Stilkraft, die nirgends in einer Dichtung pse_205.012
fehlen kann, ist das sprachliche Bild. Wir dürfen bei pse_205.013
diesem Fachausdruck nicht an das Optische denken, sondern pse_205.014
an den Ausdruck »Gebilde«. Der Mensch umgrenzt das Zustoßende pse_205.015
zu Gebilden. Dieses Umgrenzen ist abhängig einerseits pse_205.016
vom Inneren des Menschen, es offenbart also Tiefstes, pse_205.017
anderseits vom bereits errungenen Weltbild, das als Unterlage pse_205.018
neue Umgrenzungen ausrichtet. Natürlich geben Umwelt pse_205.019
und Mitwelt auch Antriebe für dieses Bilden als ein pse_205.020
Anpacken des Gegenüber. So hängt das Bilden gerade mit pse_205.021
der den Menschen auszeichnenden Weltoffenheit seines gesamten pse_205.022
Zuwendungsapparates zusammen. Wir müssen zwischen pse_205.023
sprachlichem Bild und dichterischem Bild unterscheiden. pse_205.024
Das sprachliche ist ursprünglicher, findet sich auch im pse_205.025
Nichtdichterischen, wird aber oft erst in der Dichtung voll pse_205.026
wirksam. Aus sprachlichen Bildern bauen sich auch die dichterischen pse_205.027
auf. Sie sind reicher und ausgedehnter. Ein Landschaftsbild, pse_205.028
die Schilderung eines Menschen usw. bauen sich pse_205.029
aus sprachlichen Bildern auf, aber da sie trotz ihres Umfanges pse_205.030
eine deutliche Geschlossenheit aufweisen, nennen wir sie Bilder. pse_205.031
Wir wollen aber festhalten, daß die sprachlichen Bilder pse_205.032
eine entscheidende Stilkraft in der Dichtung sind.

pse_205.033
In einer allgemeinen Betrachtung muß zuerst aufs Wesen des pse_205.034
sprachlichen Bildes geachtet werden. Wir können ihm von pse_205.035
zwei Seiten näherkommen. Zuerst von unten auf: im Zusammenwachsen pse_205.036
einzelner Gebilde entsteht ein neues von pse_205.037
bestimmter Umgrenztheit. Im kleinsten ist schon ein Wort pse_205.038
ein sprachliches Bild; denn in ihm ist ja — gehaltlich und lautlich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p> <hi rendition="#aq">
                  <lg>
                    <pb facs="#f0221" n="205"/>
                    <lb n="pse_205.001"/>
                    <l>Segnende Blitze</l>
                    <lb n="pse_205.002"/>
                    <l>Über die Erde sät,</l>
                    <lb n="pse_205.003"/>
                    <l>Küß' ich den letzten</l>
                    <lb n="pse_205.004"/>
                    <l>Saum seines Kleides,</l>
                    <lb n="pse_205.005"/>
                    <l>Kindliche Schauer</l>
                    <lb n="pse_205.006"/>
                    <l>Treu in der Brust.</l>
                  </lg>
                </hi> <lb n="pse_205.007"/> <hi rendition="#right">
                  <space dim="horizontal"/> <hi rendition="#aq">(Goethe, Grenzen der Menschheit)</hi> </hi> </p>
              <lb n="pse_205.008"/>
              <p>In der Prosa vergleiche man die Unterschiede zwischen Goethe, <lb n="pse_205.009"/>
Kleist, Stifter, G. Keller, Th. Mann und Broch.</p>
            </div>
            <div n="4">
              <lb n="pse_205.010"/>
              <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#aq"> <hi rendition="#i">Das sprachliche Bild</hi> </hi> </hi> </head>
              <p><lb n="pse_205.011"/>
Eine grundlegende Stilkraft, die nirgends in einer Dichtung <lb n="pse_205.012"/>
fehlen kann, ist das sprachliche Bild. Wir dürfen bei <lb n="pse_205.013"/>
diesem Fachausdruck nicht an das Optische denken, sondern <lb n="pse_205.014"/>
an den Ausdruck »Gebilde«. Der Mensch umgrenzt das Zustoßende <lb n="pse_205.015"/>
zu Gebilden. Dieses Umgrenzen ist abhängig einerseits <lb n="pse_205.016"/>
vom Inneren des Menschen, es offenbart also Tiefstes, <lb n="pse_205.017"/>
anderseits vom bereits errungenen Weltbild, das als Unterlage <lb n="pse_205.018"/>
neue Umgrenzungen ausrichtet. Natürlich geben Umwelt <lb n="pse_205.019"/>
und Mitwelt auch Antriebe für dieses Bilden als ein <lb n="pse_205.020"/>
Anpacken des Gegenüber. So hängt das Bilden gerade mit <lb n="pse_205.021"/>
der den Menschen auszeichnenden Weltoffenheit seines gesamten <lb n="pse_205.022"/>
Zuwendungsapparates zusammen. Wir müssen zwischen <lb n="pse_205.023"/>
sprachlichem Bild und dichterischem Bild unterscheiden. <lb n="pse_205.024"/>
Das sprachliche ist ursprünglicher, findet sich auch im <lb n="pse_205.025"/>
Nichtdichterischen, wird aber oft erst in der Dichtung voll <lb n="pse_205.026"/>
wirksam. Aus sprachlichen Bildern bauen sich auch die dichterischen <lb n="pse_205.027"/>
auf. Sie sind reicher und ausgedehnter. Ein Landschaftsbild, <lb n="pse_205.028"/>
die Schilderung eines Menschen usw. bauen sich <lb n="pse_205.029"/>
aus sprachlichen Bildern auf, aber da sie trotz ihres Umfanges <lb n="pse_205.030"/>
eine deutliche Geschlossenheit aufweisen, nennen wir sie Bilder. <lb n="pse_205.031"/>
Wir wollen aber festhalten, daß die sprachlichen Bilder <lb n="pse_205.032"/>
eine entscheidende Stilkraft in der Dichtung sind.</p>
              <p><lb n="pse_205.033"/>
In einer <hi rendition="#i">allgemeinen Betrachtung</hi> muß zuerst aufs Wesen des <lb n="pse_205.034"/>
sprachlichen Bildes geachtet werden. Wir können ihm von <lb n="pse_205.035"/>
zwei Seiten näherkommen. Zuerst von unten auf: im Zusammenwachsen <lb n="pse_205.036"/>
einzelner Gebilde entsteht ein neues von <lb n="pse_205.037"/>
bestimmter Umgrenztheit. Im kleinsten ist schon ein Wort <lb n="pse_205.038"/>
ein sprachliches Bild; denn in ihm ist ja &#x2014; gehaltlich und lautlich
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[205/0221] pse_205.001 Segnende Blitze pse_205.002 Über die Erde sät, pse_205.003 Küß' ich den letzten pse_205.004 Saum seines Kleides, pse_205.005 Kindliche Schauer pse_205.006 Treu in der Brust. pse_205.007 (Goethe, Grenzen der Menschheit) pse_205.008 In der Prosa vergleiche man die Unterschiede zwischen Goethe, pse_205.009 Kleist, Stifter, G. Keller, Th. Mann und Broch. pse_205.010 Das sprachliche Bild pse_205.011 Eine grundlegende Stilkraft, die nirgends in einer Dichtung pse_205.012 fehlen kann, ist das sprachliche Bild. Wir dürfen bei pse_205.013 diesem Fachausdruck nicht an das Optische denken, sondern pse_205.014 an den Ausdruck »Gebilde«. Der Mensch umgrenzt das Zustoßende pse_205.015 zu Gebilden. Dieses Umgrenzen ist abhängig einerseits pse_205.016 vom Inneren des Menschen, es offenbart also Tiefstes, pse_205.017 anderseits vom bereits errungenen Weltbild, das als Unterlage pse_205.018 neue Umgrenzungen ausrichtet. Natürlich geben Umwelt pse_205.019 und Mitwelt auch Antriebe für dieses Bilden als ein pse_205.020 Anpacken des Gegenüber. So hängt das Bilden gerade mit pse_205.021 der den Menschen auszeichnenden Weltoffenheit seines gesamten pse_205.022 Zuwendungsapparates zusammen. Wir müssen zwischen pse_205.023 sprachlichem Bild und dichterischem Bild unterscheiden. pse_205.024 Das sprachliche ist ursprünglicher, findet sich auch im pse_205.025 Nichtdichterischen, wird aber oft erst in der Dichtung voll pse_205.026 wirksam. Aus sprachlichen Bildern bauen sich auch die dichterischen pse_205.027 auf. Sie sind reicher und ausgedehnter. Ein Landschaftsbild, pse_205.028 die Schilderung eines Menschen usw. bauen sich pse_205.029 aus sprachlichen Bildern auf, aber da sie trotz ihres Umfanges pse_205.030 eine deutliche Geschlossenheit aufweisen, nennen wir sie Bilder. pse_205.031 Wir wollen aber festhalten, daß die sprachlichen Bilder pse_205.032 eine entscheidende Stilkraft in der Dichtung sind. pse_205.033 In einer allgemeinen Betrachtung muß zuerst aufs Wesen des pse_205.034 sprachlichen Bildes geachtet werden. Wir können ihm von pse_205.035 zwei Seiten näherkommen. Zuerst von unten auf: im Zusammenwachsen pse_205.036 einzelner Gebilde entsteht ein neues von pse_205.037 bestimmter Umgrenztheit. Im kleinsten ist schon ein Wort pse_205.038 ein sprachliches Bild; denn in ihm ist ja — gehaltlich und lautlich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/221
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/221>, abgerufen am 25.11.2024.