pse_208.001 Unmittelbarkeit bedeutet, daß Welt und Menscheninneres pse_208.002 ohne rationale Zwischenglieder ausgeprägter pse_208.003 Art sich begegnen. Entweder steht der gestaltende Mensch pse_208.004 dabei mitten inne in der zu umgrenzenden und zu gestaltenden pse_208.005 Welt, und zwar mit der Haltung der Sicherheit oder auch pse_208.006 der Erschütterung. Oder er steht in geistiger Beherrschtheit pse_208.007 und Beherrschung darüber. Dabei sind die mannigfachsten pse_208.008 Beziehungen möglich. Unter Vereindringlichung verstehen pse_208.009 wir: die Menschen öffnen sich dem Erfahrungsstrom: das pse_208.010 Gegenüber dringt in sie ein und verschmilzt mit ihrem Inneren. pse_208.011 Es liegt im bildschöpferischen Akt -- um diesen und nicht pse_208.012 um allfälligen späteren Gebrauch verfügbarer Bilder handelt pse_208.013 es sich hier -- ein besonderer Grad seelischer Tätigkeit: Energien pse_208.014 des Menschen und der Erfahrungswelt vereinen sich. pse_208.015 Dabei wächst das Ich über sich hinaus, und so bekommen die pse_208.016 Objekte eine besondere Wertbedeutsamkeit: der Mensch pse_208.017 stößt so ins Überindividuelle vor. Daraus erwachsen zwei pse_208.018 Züge der Sprachkunst im sprachlichen Bild: die Fülle und das pse_208.019 Schöpferische. Die logische Beurteilung des sprachlichen Bildes pse_208.020 als Übertragung von Bekanntem auf Unbekanntes wird pse_208.021 dem nicht gerecht. Dabei können weiteste Weltbereiche einbezogen pse_208.022 werden. "... indessen ging die Wucht und Wölbung pse_208.023 der Erde, unempfunden und ungehört von ihren Bewohnern, pse_208.024 stürmend dem Osten zu -- der Mond wurde gegen Westen pse_208.025 geschleudert, die alten Sterne mit, neue zogen in Osten auf -- -- -- und so immer fort, bis endlich mitten unter ihnen am pse_208.026 Waldrande ein blasser milchiger Lichtstreifen aufblühte -- pse_208.027 ein frisches Lüftchen an die Wipfel stieß -- und der erste pse_208.028 Morgenschrei aus der Kehle eines Vogels stieß" (Stifter, pse_208.029 "Hochwald", Schluß des dritten Kapitels). Von hier aus kann pse_208.030 nochmals die Frage der Anschaulichkeit angegangen werden. pse_208.031 Wenn in der Dichtung Anschaulichkeit im engen Sinne des pse_208.032 Wortes, also zumindest Erweckung sinnlich-anschaulicher pse_208.033 Vorstellungen verlangt wird, so beachtet man zweierlei pse_208.034 nicht: 1. wie verwickelt der seelische Vorgang beim Dichtungserleben pse_208.035 wäre, wenn jeder Wortgehalt anschaulich vorgestellt pse_208.036 werden müßte! -- 2. In diesem Falle wäre ja Dichtung nur pse_208.037 Surrogat; denn nie kann das Wort die Anschaulichkeit des
pse_208.001 Unmittelbarkeit bedeutet, daß Welt und Menscheninneres pse_208.002 ohne rationale Zwischenglieder ausgeprägter pse_208.003 Art sich begegnen. Entweder steht der gestaltende Mensch pse_208.004 dabei mitten inne in der zu umgrenzenden und zu gestaltenden pse_208.005 Welt, und zwar mit der Haltung der Sicherheit oder auch pse_208.006 der Erschütterung. Oder er steht in geistiger Beherrschtheit pse_208.007 und Beherrschung darüber. Dabei sind die mannigfachsten pse_208.008 Beziehungen möglich. Unter Vereindringlichung verstehen pse_208.009 wir: die Menschen öffnen sich dem Erfahrungsstrom: das pse_208.010 Gegenüber dringt in sie ein und verschmilzt mit ihrem Inneren. pse_208.011 Es liegt im bildschöpferischen Akt — um diesen und nicht pse_208.012 um allfälligen späteren Gebrauch verfügbarer Bilder handelt pse_208.013 es sich hier — ein besonderer Grad seelischer Tätigkeit: Energien pse_208.014 des Menschen und der Erfahrungswelt vereinen sich. pse_208.015 Dabei wächst das Ich über sich hinaus, und so bekommen die pse_208.016 Objekte eine besondere Wertbedeutsamkeit: der Mensch pse_208.017 stößt so ins Überindividuelle vor. Daraus erwachsen zwei pse_208.018 Züge der Sprachkunst im sprachlichen Bild: die Fülle und das pse_208.019 Schöpferische. Die logische Beurteilung des sprachlichen Bildes pse_208.020 als Übertragung von Bekanntem auf Unbekanntes wird pse_208.021 dem nicht gerecht. Dabei können weiteste Weltbereiche einbezogen pse_208.022 werden. »... indessen ging die Wucht und Wölbung pse_208.023 der Erde, unempfunden und ungehört von ihren Bewohnern, pse_208.024 stürmend dem Osten zu — der Mond wurde gegen Westen pse_208.025 geschleudert, die alten Sterne mit, neue zogen in Osten auf — — — und so immer fort, bis endlich mitten unter ihnen am pse_208.026 Waldrande ein blasser milchiger Lichtstreifen aufblühte — pse_208.027 ein frisches Lüftchen an die Wipfel stieß — und der erste pse_208.028 Morgenschrei aus der Kehle eines Vogels stieß« (Stifter, pse_208.029 »Hochwald«, Schluß des dritten Kapitels). Von hier aus kann pse_208.030 nochmals die Frage der Anschaulichkeit angegangen werden. pse_208.031 Wenn in der Dichtung Anschaulichkeit im engen Sinne des pse_208.032 Wortes, also zumindest Erweckung sinnlich-anschaulicher pse_208.033 Vorstellungen verlangt wird, so beachtet man zweierlei pse_208.034 nicht: 1. wie verwickelt der seelische Vorgang beim Dichtungserleben pse_208.035 wäre, wenn jeder Wortgehalt anschaulich vorgestellt pse_208.036 werden müßte! — 2. In diesem Falle wäre ja Dichtung nur pse_208.037 Surrogat; denn nie kann das Wort die Anschaulichkeit des
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Unmittelbarkeit bedeutet, daß Welt und Menscheninneres pse_208.002
ohne rationale Zwischenglieder ausgeprägter pse_208.003
Art sich begegnen. Entweder steht der gestaltende Mensch pse_208.004
dabei mitten inne in der zu umgrenzenden und zu gestaltenden pse_208.005
Welt, und zwar mit der Haltung der Sicherheit oder auch pse_208.006
der Erschütterung. Oder er steht in geistiger Beherrschtheit pse_208.007
und Beherrschung darüber. Dabei sind die mannigfachsten pse_208.008
Beziehungen möglich. Unter Vereindringlichung verstehen pse_208.009
wir: die Menschen öffnen sich dem Erfahrungsstrom: das pse_208.010
Gegenüber dringt in sie ein und verschmilzt mit ihrem Inneren. pse_208.011
Es liegt im bildschöpferischen Akt — um diesen und nicht pse_208.012
um allfälligen späteren Gebrauch verfügbarer Bilder handelt pse_208.013
es sich hier — ein besonderer Grad seelischer Tätigkeit: Energien pse_208.014
des Menschen und der Erfahrungswelt vereinen sich. pse_208.015
Dabei wächst das Ich über sich hinaus, und so bekommen die pse_208.016
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stößt so ins Überindividuelle vor. Daraus erwachsen zwei pse_208.018
Züge der Sprachkunst im sprachlichen Bild: die Fülle und das pse_208.019
Schöpferische. Die logische Beurteilung des sprachlichen Bildes pse_208.020
als Übertragung von Bekanntem auf Unbekanntes wird pse_208.021
dem nicht gerecht. Dabei können weiteste Weltbereiche einbezogen pse_208.022
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der Erde, unempfunden und ungehört von ihren Bewohnern, pse_208.024
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Waldrande ein blasser milchiger Lichtstreifen aufblühte — pse_208.027
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Morgenschrei aus der Kehle eines Vogels stieß« (Stifter, pse_208.029
»Hochwald«, Schluß des dritten Kapitels). Von hier aus kann pse_208.030
nochmals die Frage der Anschaulichkeit angegangen werden. pse_208.031
Wenn in der Dichtung Anschaulichkeit im engen Sinne des pse_208.032
Wortes, also zumindest Erweckung sinnlich-anschaulicher pse_208.033
Vorstellungen verlangt wird, so beachtet man zweierlei pse_208.034
nicht: 1. wie verwickelt der seelische Vorgang beim Dichtungserleben pse_208.035
wäre, wenn jeder Wortgehalt anschaulich vorgestellt pse_208.036
werden müßte! — 2. In diesem Falle wäre ja Dichtung nur pse_208.037
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/224>, abgerufen am 25.11.2024.
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