Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_252.001
als gegebener Phrasen mit Bequemlichkeit bedienen kann."

pse_252.002
Auch die menschlichen Lebensstufen sind durch bestimmte pse_252.003
Gemütslagen gekennzeichnet, daher wird auch der Stil pse_252.004
junger oder alter Dichter besondere Prägung haben. Daß pse_252.005
sich das auch in Epochen widerspiegelt, ist bekannt: der pse_252.006
Sturm und Drang und der Expressionismus sind sicher kein pse_252.007
Altersstil, die späte Klassik, der späte Realismus, die reine pse_252.008
Aufklärung sind eher durch Alterszüge geprägt. Man spricht pse_252.009
heute viel vom Altersstil und bemüht sich um den späten pse_252.010
Goethe, Stifter, Raabe. Das hängt wohl auch mit der Unruhe pse_252.011
und Überhetztheit unserer Zeit zusammen, man flüchtet pse_252.012
sich in diese Bereiche und erhofft eine Art Rettung in ihrer pse_252.013
Wirkung. So wird also in diesem Sinn Altersstil durchaus als pse_252.014
ein Wert angesehen. Jugendlich frische Epochen werden im pse_252.015
Altersstil die Züge des Verfalles sehen und ihn ablehnen. Aber pse_252.016
immerhin, man kann am Altersstil bestimmte Züge erkennen: pse_252.017
Im Alter gleichen sich die Gegensätze aus, die Zerrissenheit pse_252.018
wird überwunden. Bändigung alles Schweren und Gefährlichen pse_252.019
gelingt oder wird erstrebt. Die Bewegung verlangsamt pse_252.020
sich, Ruhe lagert sich über die Sprachgestaltung: die Vorgangsworte pse_252.021
treten zurück oder mindestens die, die heftige pse_252.022
Vorgänge gestalten, das Gegenstandswort wird wichtig. Der pse_252.023
Vorgang schreitet langsam voran. Der Altersstil erreicht pse_252.024
Weite gegen Enge. Der alte Dichter hat einen weiten Blick pse_252.025
und umfaßt auch in seinen Worten weite Bereiche. Sie sind pse_252.026
nicht mehr differenziert. Im Alter kehrt man eher zu früheren pse_252.027
Formen zurück, man ist kein Revolutionär gegen Althergebrachtes, pse_252.028
sondern bringt es wieder zu Ehren. All diese Züge pse_252.029
arbeiten auch dahin, daß durch Ruhe, Weite und Bändigung pse_252.030
Tiefen des menschlichen Daseins gestaltet werden.

pse_252.031
Einen Augenblick muß in diesem Zusammenhang auch pse_252.032
auf die Möglichkeiten geschichtlichen Werdens und geschichtlicher pse_252.033
Entfaltung des Stils
geachtet werden. Denn jede sprachkünstlerische pse_252.034
Leistung ist geschichtlich gebunden; auch die pse_252.035
Sprache eines Goethe, Rilke, Thomas Mann ist nicht zeitlos. pse_252.036
Man muß um diese Bindungen wissen, wenn man einen vollständigen pse_252.037
Blick auf das Dasein der Dichtung in der Sprache pse_252.038
gewinnen will.

pse_252.001
als gegebener Phrasen mit Bequemlichkeit bedienen kann.«

pse_252.002
Auch die menschlichen Lebensstufen sind durch bestimmte pse_252.003
Gemütslagen gekennzeichnet, daher wird auch der Stil pse_252.004
junger oder alter Dichter besondere Prägung haben. Daß pse_252.005
sich das auch in Epochen widerspiegelt, ist bekannt: der pse_252.006
Sturm und Drang und der Expressionismus sind sicher kein pse_252.007
Altersstil, die späte Klassik, der späte Realismus, die reine pse_252.008
Aufklärung sind eher durch Alterszüge geprägt. Man spricht pse_252.009
heute viel vom Altersstil und bemüht sich um den späten pse_252.010
Goethe, Stifter, Raabe. Das hängt wohl auch mit der Unruhe pse_252.011
und Überhetztheit unserer Zeit zusammen, man flüchtet pse_252.012
sich in diese Bereiche und erhofft eine Art Rettung in ihrer pse_252.013
Wirkung. So wird also in diesem Sinn Altersstil durchaus als pse_252.014
ein Wert angesehen. Jugendlich frische Epochen werden im pse_252.015
Altersstil die Züge des Verfalles sehen und ihn ablehnen. Aber pse_252.016
immerhin, man kann am Altersstil bestimmte Züge erkennen: pse_252.017
Im Alter gleichen sich die Gegensätze aus, die Zerrissenheit pse_252.018
wird überwunden. Bändigung alles Schweren und Gefährlichen pse_252.019
gelingt oder wird erstrebt. Die Bewegung verlangsamt pse_252.020
sich, Ruhe lagert sich über die Sprachgestaltung: die Vorgangsworte pse_252.021
treten zurück oder mindestens die, die heftige pse_252.022
Vorgänge gestalten, das Gegenstandswort wird wichtig. Der pse_252.023
Vorgang schreitet langsam voran. Der Altersstil erreicht pse_252.024
Weite gegen Enge. Der alte Dichter hat einen weiten Blick pse_252.025
und umfaßt auch in seinen Worten weite Bereiche. Sie sind pse_252.026
nicht mehr differenziert. Im Alter kehrt man eher zu früheren pse_252.027
Formen zurück, man ist kein Revolutionär gegen Althergebrachtes, pse_252.028
sondern bringt es wieder zu Ehren. All diese Züge pse_252.029
arbeiten auch dahin, daß durch Ruhe, Weite und Bändigung pse_252.030
Tiefen des menschlichen Daseins gestaltet werden.

pse_252.031
Einen Augenblick muß in diesem Zusammenhang auch pse_252.032
auf die Möglichkeiten geschichtlichen Werdens und geschichtlicher pse_252.033
Entfaltung des Stils
geachtet werden. Denn jede sprachkünstlerische pse_252.034
Leistung ist geschichtlich gebunden; auch die pse_252.035
Sprache eines Goethe, Rilke, Thomas Mann ist nicht zeitlos. pse_252.036
Man muß um diese Bindungen wissen, wenn man einen vollständigen pse_252.037
Blick auf das Dasein der Dichtung in der Sprache pse_252.038
gewinnen will.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0268" n="252"/><lb n="pse_252.001"/>
als gegebener Phrasen mit Bequemlichkeit bedienen kann.«</p>
            <p><lb n="pse_252.002"/>
Auch die menschlichen <hi rendition="#i">Lebensstufen</hi> sind durch bestimmte <lb n="pse_252.003"/>
Gemütslagen gekennzeichnet, daher wird auch der Stil <lb n="pse_252.004"/>
junger oder alter Dichter besondere Prägung haben. Daß <lb n="pse_252.005"/>
sich das auch in Epochen widerspiegelt, ist bekannt: der <lb n="pse_252.006"/>
Sturm und Drang und der Expressionismus sind sicher kein <lb n="pse_252.007"/>
Altersstil, die späte Klassik, der späte Realismus, die reine <lb n="pse_252.008"/>
Aufklärung sind eher durch Alterszüge geprägt. Man spricht <lb n="pse_252.009"/>
heute viel vom Altersstil und bemüht sich um den späten <lb n="pse_252.010"/>
Goethe, Stifter, Raabe. Das hängt wohl auch mit der Unruhe <lb n="pse_252.011"/>
und Überhetztheit unserer Zeit zusammen, man flüchtet <lb n="pse_252.012"/>
sich in diese Bereiche und erhofft eine Art Rettung in ihrer <lb n="pse_252.013"/>
Wirkung. So wird also in diesem Sinn Altersstil durchaus als <lb n="pse_252.014"/>
ein Wert angesehen. Jugendlich frische Epochen werden im <lb n="pse_252.015"/>
Altersstil die Züge des Verfalles sehen und ihn ablehnen. Aber <lb n="pse_252.016"/>
immerhin, man kann am Altersstil bestimmte Züge erkennen: <lb n="pse_252.017"/>
Im Alter gleichen sich die Gegensätze aus, die Zerrissenheit <lb n="pse_252.018"/>
wird überwunden. Bändigung alles Schweren und Gefährlichen <lb n="pse_252.019"/>
gelingt oder wird erstrebt. Die Bewegung verlangsamt <lb n="pse_252.020"/>
sich, Ruhe lagert sich über die Sprachgestaltung: die Vorgangsworte <lb n="pse_252.021"/>
treten zurück oder mindestens die, die heftige <lb n="pse_252.022"/>
Vorgänge gestalten, das Gegenstandswort wird wichtig. Der <lb n="pse_252.023"/>
Vorgang schreitet langsam voran. Der Altersstil erreicht <lb n="pse_252.024"/>
Weite gegen Enge. Der alte Dichter hat einen weiten Blick <lb n="pse_252.025"/>
und umfaßt auch in seinen Worten weite Bereiche. Sie sind <lb n="pse_252.026"/>
nicht mehr differenziert. Im Alter kehrt man eher zu früheren <lb n="pse_252.027"/>
Formen zurück, man ist kein Revolutionär gegen Althergebrachtes, <lb n="pse_252.028"/>
sondern bringt es wieder zu Ehren. All diese Züge <lb n="pse_252.029"/>
arbeiten auch dahin, daß durch Ruhe, Weite und Bändigung <lb n="pse_252.030"/>
Tiefen des menschlichen Daseins gestaltet werden.</p>
            <p><lb n="pse_252.031"/>
Einen Augenblick muß in diesem Zusammenhang auch <lb n="pse_252.032"/>
auf die Möglichkeiten <hi rendition="#i">geschichtlichen Werdens und geschichtlicher <lb n="pse_252.033"/>
Entfaltung des Stils</hi> geachtet werden. Denn jede sprachkünstlerische <lb n="pse_252.034"/>
Leistung ist geschichtlich gebunden; auch die <lb n="pse_252.035"/>
Sprache eines Goethe, Rilke, Thomas Mann ist nicht zeitlos. <lb n="pse_252.036"/>
Man muß um diese Bindungen wissen, wenn man einen vollständigen <lb n="pse_252.037"/>
Blick auf das Dasein der Dichtung in der Sprache <lb n="pse_252.038"/>
gewinnen will.</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[252/0268] pse_252.001 als gegebener Phrasen mit Bequemlichkeit bedienen kann.« pse_252.002 Auch die menschlichen Lebensstufen sind durch bestimmte pse_252.003 Gemütslagen gekennzeichnet, daher wird auch der Stil pse_252.004 junger oder alter Dichter besondere Prägung haben. Daß pse_252.005 sich das auch in Epochen widerspiegelt, ist bekannt: der pse_252.006 Sturm und Drang und der Expressionismus sind sicher kein pse_252.007 Altersstil, die späte Klassik, der späte Realismus, die reine pse_252.008 Aufklärung sind eher durch Alterszüge geprägt. Man spricht pse_252.009 heute viel vom Altersstil und bemüht sich um den späten pse_252.010 Goethe, Stifter, Raabe. Das hängt wohl auch mit der Unruhe pse_252.011 und Überhetztheit unserer Zeit zusammen, man flüchtet pse_252.012 sich in diese Bereiche und erhofft eine Art Rettung in ihrer pse_252.013 Wirkung. So wird also in diesem Sinn Altersstil durchaus als pse_252.014 ein Wert angesehen. Jugendlich frische Epochen werden im pse_252.015 Altersstil die Züge des Verfalles sehen und ihn ablehnen. Aber pse_252.016 immerhin, man kann am Altersstil bestimmte Züge erkennen: pse_252.017 Im Alter gleichen sich die Gegensätze aus, die Zerrissenheit pse_252.018 wird überwunden. Bändigung alles Schweren und Gefährlichen pse_252.019 gelingt oder wird erstrebt. Die Bewegung verlangsamt pse_252.020 sich, Ruhe lagert sich über die Sprachgestaltung: die Vorgangsworte pse_252.021 treten zurück oder mindestens die, die heftige pse_252.022 Vorgänge gestalten, das Gegenstandswort wird wichtig. Der pse_252.023 Vorgang schreitet langsam voran. Der Altersstil erreicht pse_252.024 Weite gegen Enge. Der alte Dichter hat einen weiten Blick pse_252.025 und umfaßt auch in seinen Worten weite Bereiche. Sie sind pse_252.026 nicht mehr differenziert. Im Alter kehrt man eher zu früheren pse_252.027 Formen zurück, man ist kein Revolutionär gegen Althergebrachtes, pse_252.028 sondern bringt es wieder zu Ehren. All diese Züge pse_252.029 arbeiten auch dahin, daß durch Ruhe, Weite und Bändigung pse_252.030 Tiefen des menschlichen Daseins gestaltet werden. pse_252.031 Einen Augenblick muß in diesem Zusammenhang auch pse_252.032 auf die Möglichkeiten geschichtlichen Werdens und geschichtlicher pse_252.033 Entfaltung des Stils geachtet werden. Denn jede sprachkünstlerische pse_252.034 Leistung ist geschichtlich gebunden; auch die pse_252.035 Sprache eines Goethe, Rilke, Thomas Mann ist nicht zeitlos. pse_252.036 Man muß um diese Bindungen wissen, wenn man einen vollständigen pse_252.037 Blick auf das Dasein der Dichtung in der Sprache pse_252.038 gewinnen will.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/268
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/268>, abgerufen am 24.11.2024.