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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Zwei Möglichkeiten, die Wandlungen des Stils geschichtlich pse_253.002
zu sehen, gibt es vor allem. Dabei muß natürlich auf pse_253.003
folgendes geachtet werden: je näher uns eine Epoche steht, pse_253.004
desto mehr entfaltet sie uns ihre Fülle, ihren Reichtum; je pse_253.005
weiter sie entfernt liegt, desto mehr überblicken wir sie als pse_253.006
Gesamtheit, desto mehr verschwinden uns die Einzelheiten. pse_253.007
1. Man kann in der abendländischen Stilentwicklung zwei pse_253.008
Zeiträume erkennen. Bis ins späte 18. Jahrhundert war Dichten pse_253.009
ein Schaffen mit vorbestimmten Formen, es ging darauf pse_253.010
aus, Sprechen auf erhöhter Ebene zu sein und damit auch den pse_253.011
Menschen durch die Dichtung zu erheben. Die dichterische pse_253.012
Sprache war dadurch bestimmt. Seit dem, was man heute pse_253.013
vielfach als europäische Romantik bezeichnet, seit dem Sturm pse_253.014
und Drang, seit der Romantik beginnt die Wende zum Persönlichen: pse_253.015
Stil wird jetzt Ausdruck persönlicher Haltung. Aber pse_253.016
schon hier darf man nicht vergessen, daß diese Einteilung ihr pse_253.017
Bedenkliches hat: eine Epoche von ungefähr 1800 Jahren steht pse_253.018
einer von ungefähr 100 Jahren gegenüber! Besteht da nicht pse_253.019
die Wahrscheinlichkeit, daß man Einschnitte, Sonderentwicklungen pse_253.020
und Wendungen in der langen Epoche übersieht? pse_253.021
Das ist besonders zu beachten, wenn man erkennt, wie heute pse_253.022
in der Dichtung wieder das formale Schaffen, die Frage der pse_253.023
Verwendung bestimmter Formen und bestimmter Wirkungen pse_253.024
in den Vordergrund tritt. Damit würde die Epoche von pse_253.025
etwa 1770 bis 1930 zu einem Einsprengsel in der gesamteuropäischen pse_253.026
Sprachstilgeschichte werden. Verkennt man also pse_253.027
in dieser Epoche das Formale und die Tradition oder in der pse_253.028
ganzen übrigen Zeit die Bedeutung persönlicher Schöpfung pse_253.029
aus innersten Kräften? 2. Die zweite Möglichkeit scheint auf pse_253.030
den ersten Blick konkrete Tatsachen als Grundlage zu haben. pse_253.031
Man hat erkannt, daß im Mittelalter, besonders etwa in den pse_253.032
feinen psychologischen Differenzierungen des Minnedienstes pse_253.033
oder den reichen religiösen Sonderungen der Mystik die pse_253.034
Sprache mit einem verhältnismäßig geringen Wortschatz pse_253.035
auskommt und diesem Reichtum dadurch Gestalt geben kann, pse_253.036
daß je im Sprachzusammenhang die Wortgehalte aufs feinste pse_253.037
schattiert werden. Der Wortschatz hat sich in den letzten pse_253.038
Jahrhunderten sehr vermehrt: ein Zeugnis für die ungeheure

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und Wendungen in der langen Epoche übersieht? pse_253.021
Das ist besonders zu beachten, wenn man erkennt, wie heute pse_253.022
in der Dichtung wieder das formale Schaffen, die Frage der pse_253.023
Verwendung bestimmter Formen und bestimmter Wirkungen pse_253.024
in den Vordergrund tritt. Damit würde die Epoche von pse_253.025
etwa 1770 bis 1930 zu einem Einsprengsel in der gesamteuropäischen pse_253.026
Sprachstilgeschichte werden. Verkennt man also pse_253.027
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ganzen übrigen Zeit die Bedeutung persönlicher Schöpfung pse_253.029
aus innersten Kräften? 2. Die zweite Möglichkeit scheint auf pse_253.030
den ersten Blick konkrete Tatsachen als Grundlage zu haben. pse_253.031
Man hat erkannt, daß im Mittelalter, besonders etwa in den pse_253.032
feinen psychologischen Differenzierungen des Minnedienstes pse_253.033
oder den reichen religiösen Sonderungen der Mystik die pse_253.034
Sprache mit einem verhältnismäßig geringen Wortschatz pse_253.035
auskommt und diesem Reichtum dadurch Gestalt geben kann, pse_253.036
daß je im Sprachzusammenhang die Wortgehalte aufs feinste pse_253.037
schattiert werden. Der Wortschatz hat sich in den letzten pse_253.038
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[253/0269] pse_253.001 Zwei Möglichkeiten, die Wandlungen des Stils geschichtlich pse_253.002 zu sehen, gibt es vor allem. Dabei muß natürlich auf pse_253.003 folgendes geachtet werden: je näher uns eine Epoche steht, pse_253.004 desto mehr entfaltet sie uns ihre Fülle, ihren Reichtum; je pse_253.005 weiter sie entfernt liegt, desto mehr überblicken wir sie als pse_253.006 Gesamtheit, desto mehr verschwinden uns die Einzelheiten. pse_253.007 1. Man kann in der abendländischen Stilentwicklung zwei pse_253.008 Zeiträume erkennen. Bis ins späte 18. Jahrhundert war Dichten pse_253.009 ein Schaffen mit vorbestimmten Formen, es ging darauf pse_253.010 aus, Sprechen auf erhöhter Ebene zu sein und damit auch den pse_253.011 Menschen durch die Dichtung zu erheben. Die dichterische pse_253.012 Sprache war dadurch bestimmt. Seit dem, was man heute pse_253.013 vielfach als europäische Romantik bezeichnet, seit dem Sturm pse_253.014 und Drang, seit der Romantik beginnt die Wende zum Persönlichen: pse_253.015 Stil wird jetzt Ausdruck persönlicher Haltung. Aber pse_253.016 schon hier darf man nicht vergessen, daß diese Einteilung ihr pse_253.017 Bedenkliches hat: eine Epoche von ungefähr 1800 Jahren steht pse_253.018 einer von ungefähr 100 Jahren gegenüber! Besteht da nicht pse_253.019 die Wahrscheinlichkeit, daß man Einschnitte, Sonderentwicklungen pse_253.020 und Wendungen in der langen Epoche übersieht? pse_253.021 Das ist besonders zu beachten, wenn man erkennt, wie heute pse_253.022 in der Dichtung wieder das formale Schaffen, die Frage der pse_253.023 Verwendung bestimmter Formen und bestimmter Wirkungen pse_253.024 in den Vordergrund tritt. Damit würde die Epoche von pse_253.025 etwa 1770 bis 1930 zu einem Einsprengsel in der gesamteuropäischen pse_253.026 Sprachstilgeschichte werden. Verkennt man also pse_253.027 in dieser Epoche das Formale und die Tradition oder in der pse_253.028 ganzen übrigen Zeit die Bedeutung persönlicher Schöpfung pse_253.029 aus innersten Kräften? 2. Die zweite Möglichkeit scheint auf pse_253.030 den ersten Blick konkrete Tatsachen als Grundlage zu haben. pse_253.031 Man hat erkannt, daß im Mittelalter, besonders etwa in den pse_253.032 feinen psychologischen Differenzierungen des Minnedienstes pse_253.033 oder den reichen religiösen Sonderungen der Mystik die pse_253.034 Sprache mit einem verhältnismäßig geringen Wortschatz pse_253.035 auskommt und diesem Reichtum dadurch Gestalt geben kann, pse_253.036 daß je im Sprachzusammenhang die Wortgehalte aufs feinste pse_253.037 schattiert werden. Der Wortschatz hat sich in den letzten pse_253.038 Jahrhunderten sehr vermehrt: ein Zeugnis für die ungeheure

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/269>, abgerufen am 21.11.2024.