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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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tiefere Sinnzusammenhänge anzudeuten. Das führt uns pse_272.002
auf zweierlei. Das eine ist der dichterische Wert der Allegorie. pse_272.003
Gewiß sind Allegorien oft beinahe verstandesmäßige Schablonen, pse_272.004
Zeichen, deren Bedeutung man kennen muß. Aber pse_272.005
diese Bilder können an sich -- wie vor allem in der gesamten pse_272.006
mittelalterlichen Kunst aus dem Weltbild dieser Zeit heraus pse_272.007
-- eine solche innere Größe haben, daß sie noch Eigenwert pse_272.008
bewahren und damit die Bedeutung nicht bloß andeuten, pse_272.009
sondern wieder in die Nähe von Symbolen rücken. Am großartigsten pse_272.010
vielleicht in Dantes Werk: Vergil und Beatrice pse_272.011
wachsen über bloße Allegorien durch ihre dichterische Eindringlichkeit pse_272.012
und Fülle hinaus, aber auch die drei wilden pse_272.013
Tiere des Anfangs haben an sich schon bildhaften Wert. Der pse_272.014
Dichter kann Allegorien auch neue Sinnträchtigkeit verleihen. pse_272.015
Der Leuchter, der in Form der allegorischen Gestalt der pse_272.016
Justitia von der Decke hängt, gewinnt vertiefte Bedeutung pse_272.017
am Schluß des "Jenatsch", wenn Lukretia, die eben ihren Geliebten pse_272.018
rächend und rettend zugleich getötet hat, unter ihr pse_272.019
aus einer Ohnmacht erwacht und das Wachs der Kerzen in pse_272.020
glühenden Tropfen auf sie fällt. Die allegorische Schnitzfigur pse_272.021
wird hier Glied eines größern Bildes, das als Symbol die pse_272.022
Dichtung zusammenfaßt. Das andere ist die Vereinfachung pse_272.023
von Symbolen zu Zeichen, wie es in der modernen Dichtung pse_272.024
häufig getroffen wird. Diese Zeichen -- meist einfache Worte pse_272.025
oder sprachliche Gebärden -- umschließen das Angedeutete pse_272.026
nicht mehr in der ganzen Fülle wie das Symbol, sondern pse_272.027
deuten nur mehr hin. Sie sind willkürlich. Sie erinnern an pse_272.028
die Embleme. Man spricht vielfach auch von Chiffren, also pse_272.029
von Geheimzeichen, deren Bedeutung sich zwar aus der pse_272.030
Dichtung ergibt, die man aber wissen und kennen muß, um pse_272.031
das in der Dichtung Gesagte ganz zu verstehen. Wenn das pse_272.032
dichterische Symbol nur mehr Funktion und bloßes Zeichen, pse_272.033
geheime Chiffre ist, wird es in seiner inneren Fülle eingeengt pse_272.034
und verliert seinen tiefen Sinn. Man begründet die Verwendung pse_272.035
von Chiffren in moderner Dichtung mit der Fülle, pse_272.036
Differenziertheit und Widersprüchlichkeit der modernen pse_272.037
Welt. Diese könne nicht mehr in dieser Vielschichtigkeit pse_272.038
durch Symbole gestaltet werden, sondern nur mehr durch

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tiefere Sinnzusammenhänge anzudeuten. Das führt uns pse_272.002
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und Fülle hinaus, aber auch die drei wilden pse_272.013
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Dichtung ergibt, die man aber wissen und kennen muß, um pse_272.031
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Differenziertheit und Widersprüchlichkeit der modernen pse_272.037
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/288>, abgerufen am 21.11.2024.