Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite
pse_014.001
I pse_014.002
DIE DICHTUNG IM RAHMEN DER KÜNSTE
pse_014.003
Allgemeines zum Kunstwerk
pse_014.004

Die Feststellung, von der wir ausgehen, dürfte kaum einem pse_014.005
Widerspruch begegnen: Dichtung ist Kunst, sie gehört in pse_014.006
den Rahmen der Künste. Jede einzelne Dichtung ist daher pse_014.007
ein Kunstwerk, das kleinste lyrische Gedicht sowohl wie der pse_014.008
umfangreichste Roman -- wenn er wirklich diesen Namen pse_014.009
verdient. So wird es ein erster Zugang zur Dichtung sein, pse_014.010
wenn wir sie als Kunst überhaupt sehen und ihre Stellung im pse_014.011
Rahmen der übrigen Künste erkennen.

pse_014.012
Jeder Mensch steht immer einer Fülle von Erscheinungen pse_014.013
gegenüber. Mit ihnen muß er in irgendeiner Weise fertig pse_014.014
werden, um im Leben bestehen zu können. Das, was jedem pse_014.015
einzelnen begegnet, ist seine Welt. Alles, was ihm gegenübertritt, pse_014.016
bezeichnet er in der Sprache (nicht bloß in der deutschen) pse_014.017
sehr gut mit "Gegenstand". Diese Gegenstände sind also sehr pse_014.018
verschieden und verlangen daher auch eine ganz verschiedene pse_014.019
Einstellung oder Erfassung durch den Menschen. Aber auch: pse_014.020
verschiedene Menschen erfassen denselben Gegenstand anders. pse_014.021
Wie verschieden wird ein und dieselbe Landschaft von pse_014.022
einem Bauern, einem Geschäftsreisenden, einem Geologen, pse_014.023
einem Techniker, einem Künstler und einem Priester gesehen pse_014.024
und erlebt. Für jeden von ihnen wird sie so zu einem anderen pse_014.025
Gegenstand. Wir gehen also zunächst am besten von der Art pse_014.026
des Erfassens eines Gegenstandes aus. Wir betrachten nicht pse_014.027
alle Schattierungen, sondern greifen drei heraus. Das eine pse_014.028
ist die praktische Erfassung: der Gegenstand wird als brauchbar pse_014.029
fürs praktische Leben erfaßt und demnach in der verschiedensten pse_014.030
Weise bewertet und verwendet, als technisches

pse_014.001
I pse_014.002
DIE DICHTUNG IM RAHMEN DER KÜNSTE
pse_014.003
Allgemeines zum Kunstwerk
pse_014.004

Die Feststellung, von der wir ausgehen, dürfte kaum einem pse_014.005
Widerspruch begegnen: Dichtung ist Kunst, sie gehört in pse_014.006
den Rahmen der Künste. Jede einzelne Dichtung ist daher pse_014.007
ein Kunstwerk, das kleinste lyrische Gedicht sowohl wie der pse_014.008
umfangreichste Roman — wenn er wirklich diesen Namen pse_014.009
verdient. So wird es ein erster Zugang zur Dichtung sein, pse_014.010
wenn wir sie als Kunst überhaupt sehen und ihre Stellung im pse_014.011
Rahmen der übrigen Künste erkennen.

pse_014.012
Jeder Mensch steht immer einer Fülle von Erscheinungen pse_014.013
gegenüber. Mit ihnen muß er in irgendeiner Weise fertig pse_014.014
werden, um im Leben bestehen zu können. Das, was jedem pse_014.015
einzelnen begegnet, ist seine Welt. Alles, was ihm gegenübertritt, pse_014.016
bezeichnet er in der Sprache (nicht bloß in der deutschen) pse_014.017
sehr gut mit »Gegenstand«. Diese Gegenstände sind also sehr pse_014.018
verschieden und verlangen daher auch eine ganz verschiedene pse_014.019
Einstellung oder Erfassung durch den Menschen. Aber auch: pse_014.020
verschiedene Menschen erfassen denselben Gegenstand anders. pse_014.021
Wie verschieden wird ein und dieselbe Landschaft von pse_014.022
einem Bauern, einem Geschäftsreisenden, einem Geologen, pse_014.023
einem Techniker, einem Künstler und einem Priester gesehen pse_014.024
und erlebt. Für jeden von ihnen wird sie so zu einem anderen pse_014.025
Gegenstand. Wir gehen also zunächst am besten von der Art pse_014.026
des Erfassens eines Gegenstandes aus. Wir betrachten nicht pse_014.027
alle Schattierungen, sondern greifen drei heraus. Das eine pse_014.028
ist die praktische Erfassung: der Gegenstand wird als brauchbar pse_014.029
fürs praktische Leben erfaßt und demnach in der verschiedensten pse_014.030
Weise bewertet und verwendet, als technisches

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0030" n="E14"/>
        <div n="2">
          <lb n="pse_014.001"/>
          <head> <hi rendition="#c">I</hi> <lb n="pse_014.002"/> <hi rendition="#g"> <hi rendition="#c">DIE DICHTUNG IM RAHMEN DER KÜNSTE</hi> </hi> </head>
          <lb n="pse_014.003"/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#i">Allgemeines zum Kunstwerk</hi> </hi> </head>
            <lb n="pse_014.004"/>
            <p><hi rendition="#in">D</hi>ie Feststellung, von der wir ausgehen, dürfte kaum einem <lb n="pse_014.005"/>
Widerspruch begegnen: Dichtung ist Kunst, sie gehört in <lb n="pse_014.006"/>
den Rahmen der Künste. Jede einzelne Dichtung ist daher <lb n="pse_014.007"/>
ein Kunstwerk, das kleinste lyrische Gedicht sowohl wie der <lb n="pse_014.008"/>
umfangreichste Roman &#x2014; wenn er wirklich diesen Namen <lb n="pse_014.009"/>
verdient. So wird es ein erster Zugang zur Dichtung sein, <lb n="pse_014.010"/>
wenn wir sie als Kunst überhaupt sehen und ihre Stellung im <lb n="pse_014.011"/>
Rahmen der übrigen Künste erkennen.</p>
            <p><lb n="pse_014.012"/>
Jeder Mensch steht immer einer Fülle von Erscheinungen <lb n="pse_014.013"/>
gegenüber. Mit ihnen muß er in irgendeiner Weise fertig <lb n="pse_014.014"/>
werden, um im Leben bestehen zu können. Das, was jedem <lb n="pse_014.015"/>
einzelnen begegnet, ist seine Welt. Alles, was ihm gegenübertritt, <lb n="pse_014.016"/>
bezeichnet er in der Sprache (nicht bloß in der deutschen) <lb n="pse_014.017"/>
sehr gut mit »Gegenstand«. Diese Gegenstände sind also sehr <lb n="pse_014.018"/>
verschieden und verlangen daher auch eine ganz verschiedene <lb n="pse_014.019"/>
Einstellung oder Erfassung durch den Menschen. Aber auch: <lb n="pse_014.020"/>
verschiedene Menschen erfassen denselben Gegenstand anders. <lb n="pse_014.021"/>
Wie verschieden wird ein und dieselbe Landschaft von <lb n="pse_014.022"/>
einem Bauern, einem Geschäftsreisenden, einem Geologen, <lb n="pse_014.023"/>
einem Techniker, einem Künstler und einem Priester gesehen <lb n="pse_014.024"/>
und erlebt. Für jeden von ihnen wird sie so zu einem anderen <lb n="pse_014.025"/>
Gegenstand. Wir gehen also zunächst am besten von der Art <lb n="pse_014.026"/>
des Erfassens eines Gegenstandes aus. Wir betrachten nicht <lb n="pse_014.027"/>
alle Schattierungen, sondern greifen drei heraus. Das eine <lb n="pse_014.028"/>
ist die praktische Erfassung: der Gegenstand wird als brauchbar <lb n="pse_014.029"/>
fürs praktische Leben erfaßt und demnach in der verschiedensten <lb n="pse_014.030"/>
Weise bewertet und verwendet, als technisches
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[E14/0030] pse_014.001 I pse_014.002 DIE DICHTUNG IM RAHMEN DER KÜNSTE pse_014.003 Allgemeines zum Kunstwerk pse_014.004 Die Feststellung, von der wir ausgehen, dürfte kaum einem pse_014.005 Widerspruch begegnen: Dichtung ist Kunst, sie gehört in pse_014.006 den Rahmen der Künste. Jede einzelne Dichtung ist daher pse_014.007 ein Kunstwerk, das kleinste lyrische Gedicht sowohl wie der pse_014.008 umfangreichste Roman — wenn er wirklich diesen Namen pse_014.009 verdient. So wird es ein erster Zugang zur Dichtung sein, pse_014.010 wenn wir sie als Kunst überhaupt sehen und ihre Stellung im pse_014.011 Rahmen der übrigen Künste erkennen. pse_014.012 Jeder Mensch steht immer einer Fülle von Erscheinungen pse_014.013 gegenüber. Mit ihnen muß er in irgendeiner Weise fertig pse_014.014 werden, um im Leben bestehen zu können. Das, was jedem pse_014.015 einzelnen begegnet, ist seine Welt. Alles, was ihm gegenübertritt, pse_014.016 bezeichnet er in der Sprache (nicht bloß in der deutschen) pse_014.017 sehr gut mit »Gegenstand«. Diese Gegenstände sind also sehr pse_014.018 verschieden und verlangen daher auch eine ganz verschiedene pse_014.019 Einstellung oder Erfassung durch den Menschen. Aber auch: pse_014.020 verschiedene Menschen erfassen denselben Gegenstand anders. pse_014.021 Wie verschieden wird ein und dieselbe Landschaft von pse_014.022 einem Bauern, einem Geschäftsreisenden, einem Geologen, pse_014.023 einem Techniker, einem Künstler und einem Priester gesehen pse_014.024 und erlebt. Für jeden von ihnen wird sie so zu einem anderen pse_014.025 Gegenstand. Wir gehen also zunächst am besten von der Art pse_014.026 des Erfassens eines Gegenstandes aus. Wir betrachten nicht pse_014.027 alle Schattierungen, sondern greifen drei heraus. Das eine pse_014.028 ist die praktische Erfassung: der Gegenstand wird als brauchbar pse_014.029 fürs praktische Leben erfaßt und demnach in der verschiedensten pse_014.030 Weise bewertet und verwendet, als technisches

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/30
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. E14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/30>, abgerufen am 03.12.2024.