pse_291.001 Derben ins Mittlere ohne weiteres denken, wenn der derbe pse_291.002 Ton gemäßigt wird und damit der Blick von der unteren pse_291.003 Wirklichkeit langsam abrückt. Ebenso kann vom Mittleren pse_291.004 langsam die Gestaltung zum Erhabenen emporsteigen.
pse_291.005 Ein großes Beispiel einheitlicher erhabener Gestaltung ist pse_291.006 die französische tragedie classique. Sie ist erst langsam zu pse_291.007 dieser Reinform des Erhabenen gelangt, das zeigen noch gewisse pse_291.008 Unsicherheiten bei Corneille; bei Racine ist diese pse_291.009 künstlerische Ebene schon vollkommene Selbstverständlichkeit. pse_291.010 Boileau hat sie dann theoretisch gefordert, zugleich mit pse_291.011 ihr die reine Trennung der drei Ebenen. "Er kennt zunächst pse_291.012 den hohen, erhabenen Stil der Tragödie; alsdann den mittleren pse_291.013 der Gesellschaftskomödie, der von honnetes gens handeln pse_291.014 und für honnetes gens bestimmt sein muß, in welchem pse_291.015 die Schauspieler >badinent noblement<; und schließlich den pse_291.016 niederen der Volksfarce, in dem, sowohl in den Ereignissen wie pse_291.017 in der Sprache, >le bouffon< herrscht, und den Boileau schon pse_291.018 wegen seiner mots sales et bas, welche den Pöbel entzücken, pse_291.019 aufs tiefste verachtet" (Auerbach). Hier wird die gesellschaftliche pse_291.020 Grundlage der Gestaltungsebenen deutlich. Einheit kann pse_291.021 also auf jeder Ebene möglich sein. Neben den Beispielen, die pse_291.022 hier Boileau gibt, erinnern wir uns an Possen und Farcen und pse_291.023 an die übliche Unterhaltungsliteratur.
pse_291.024 Aber Boileau tadelt an dieser Stelle auch Moliere, weil er pse_291.025 diese Einheit nicht beachte. Denn tatsächlich steigt er oft in pse_291.026 die Bereiche des Derben und Possenhaften hinab. Viel stärker pse_291.027 ist die Stilmischung bei Shakespeare: da verlangt eine Person pse_291.028 hohen Standes nach Dünnbier und spricht mit einer niederen pse_291.029 über deren Kleidungsstücke ("Heinrich IV.", 2. Teil, 2/2). Aber pse_291.030 auch in den großen Tragödien finden sich genug Stellen: Hamlet pse_291.031 ist fett, Cäsar fällt durch den Gestank des Pöbels in Ohnmacht, pse_291.032 der Wahnsinn Ophelias ist mit krasser Psychologie dargestellt. pse_291.033 Dazu tritt ja dann bei Shakespeare noch das scharfe Zusammentreffen pse_291.034 von Tragischem und Komischem. Ähnliche pse_291.035 Begegnungen zweier Ebenen lassen sich auch zwischen dem pse_291.036 Anmutigen und Erhabenen denken. Worin besteht nun der pse_291.037 ästhetische Wert einerseits der Einheit, anderseits des Wechsels?
pse_291.038 Die Geschlossenheit innerhalb einer Gestaltungsebene
pse_291.001 Derben ins Mittlere ohne weiteres denken, wenn der derbe pse_291.002 Ton gemäßigt wird und damit der Blick von der unteren pse_291.003 Wirklichkeit langsam abrückt. Ebenso kann vom Mittleren pse_291.004 langsam die Gestaltung zum Erhabenen emporsteigen.
pse_291.005 Ein großes Beispiel einheitlicher erhabener Gestaltung ist pse_291.006 die französische tragédie classique. Sie ist erst langsam zu pse_291.007 dieser Reinform des Erhabenen gelangt, das zeigen noch gewisse pse_291.008 Unsicherheiten bei Corneille; bei Racine ist diese pse_291.009 künstlerische Ebene schon vollkommene Selbstverständlichkeit. pse_291.010 Boileau hat sie dann theoretisch gefordert, zugleich mit pse_291.011 ihr die reine Trennung der drei Ebenen. »Er kennt zunächst pse_291.012 den hohen, erhabenen Stil der Tragödie; alsdann den mittleren pse_291.013 der Gesellschaftskomödie, der von honnêtes gens handeln pse_291.014 und für honnêtes gens bestimmt sein muß, in welchem pse_291.015 die Schauspieler ›badinent noblement‹; und schließlich den pse_291.016 niederen der Volksfarce, in dem, sowohl in den Ereignissen wie pse_291.017 in der Sprache, ›le bouffon‹ herrscht, und den Boileau schon pse_291.018 wegen seiner mots sales et bas, welche den Pöbel entzücken, pse_291.019 aufs tiefste verachtet« (Auerbach). Hier wird die gesellschaftliche pse_291.020 Grundlage der Gestaltungsebenen deutlich. Einheit kann pse_291.021 also auf jeder Ebene möglich sein. Neben den Beispielen, die pse_291.022 hier Boileau gibt, erinnern wir uns an Possen und Farcen und pse_291.023 an die übliche Unterhaltungsliteratur.
pse_291.024 Aber Boileau tadelt an dieser Stelle auch Molière, weil er pse_291.025 diese Einheit nicht beachte. Denn tatsächlich steigt er oft in pse_291.026 die Bereiche des Derben und Possenhaften hinab. Viel stärker pse_291.027 ist die Stilmischung bei Shakespeare: da verlangt eine Person pse_291.028 hohen Standes nach Dünnbier und spricht mit einer niederen pse_291.029 über deren Kleidungsstücke (»Heinrich IV.«, 2. Teil, 2/2). Aber pse_291.030 auch in den großen Tragödien finden sich genug Stellen: Hamlet pse_291.031 ist fett, Cäsar fällt durch den Gestank des Pöbels in Ohnmacht, pse_291.032 der Wahnsinn Ophelias ist mit krasser Psychologie dargestellt. pse_291.033 Dazu tritt ja dann bei Shakespeare noch das scharfe Zusammentreffen pse_291.034 von Tragischem und Komischem. Ähnliche pse_291.035 Begegnungen zweier Ebenen lassen sich auch zwischen dem pse_291.036 Anmutigen und Erhabenen denken. Worin besteht nun der pse_291.037 ästhetische Wert einerseits der Einheit, anderseits des Wechsels?
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Derben ins Mittlere ohne weiteres denken, wenn der derbe pse_291.002
Ton gemäßigt wird und damit der Blick von der unteren pse_291.003
Wirklichkeit langsam abrückt. Ebenso kann vom Mittleren pse_291.004
langsam die Gestaltung zum Erhabenen emporsteigen.
pse_291.005
Ein großes Beispiel einheitlicher erhabener Gestaltung ist pse_291.006
die französische tragédie classique. Sie ist erst langsam zu pse_291.007
dieser Reinform des Erhabenen gelangt, das zeigen noch gewisse pse_291.008
Unsicherheiten bei Corneille; bei Racine ist diese pse_291.009
künstlerische Ebene schon vollkommene Selbstverständlichkeit. pse_291.010
Boileau hat sie dann theoretisch gefordert, zugleich mit pse_291.011
ihr die reine Trennung der drei Ebenen. »Er kennt zunächst pse_291.012
den hohen, erhabenen Stil der Tragödie; alsdann den mittleren pse_291.013
der Gesellschaftskomödie, der von honnêtes gens handeln pse_291.014
und für honnêtes gens bestimmt sein muß, in welchem pse_291.015
die Schauspieler ›badinent noblement‹; und schließlich den pse_291.016
niederen der Volksfarce, in dem, sowohl in den Ereignissen wie pse_291.017
in der Sprache, ›le bouffon‹ herrscht, und den Boileau schon pse_291.018
wegen seiner mots sales et bas, welche den Pöbel entzücken, pse_291.019
aufs tiefste verachtet« (Auerbach). Hier wird die gesellschaftliche pse_291.020
Grundlage der Gestaltungsebenen deutlich. Einheit kann pse_291.021
also auf jeder Ebene möglich sein. Neben den Beispielen, die pse_291.022
hier Boileau gibt, erinnern wir uns an Possen und Farcen und pse_291.023
an die übliche Unterhaltungsliteratur.
pse_291.024
Aber Boileau tadelt an dieser Stelle auch Molière, weil er pse_291.025
diese Einheit nicht beachte. Denn tatsächlich steigt er oft in pse_291.026
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ist die Stilmischung bei Shakespeare: da verlangt eine Person pse_291.028
hohen Standes nach Dünnbier und spricht mit einer niederen pse_291.029
über deren Kleidungsstücke (»Heinrich IV.«, 2. Teil, 2/2). Aber pse_291.030
auch in den großen Tragödien finden sich genug Stellen: Hamlet pse_291.031
ist fett, Cäsar fällt durch den Gestank des Pöbels in Ohnmacht, pse_291.032
der Wahnsinn Ophelias ist mit krasser Psychologie dargestellt. pse_291.033
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von Tragischem und Komischem. Ähnliche pse_291.035
Begegnungen zweier Ebenen lassen sich auch zwischen dem pse_291.036
Anmutigen und Erhabenen denken. Worin besteht nun der pse_291.037
ästhetische Wert einerseits der Einheit, anderseits des Wechsels?
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/307>, abgerufen am 21.11.2024.
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