Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_296.001
wirken sich, abgesehen von den Bildungseinflüssen der pse_296.002
geschichtlichen Lage, auch die mannigfachen Erbverhangenheiten pse_296.003
aus, die den Menschen wieder weit in die Vergangenheit pse_296.004
zurückbinden.

pse_296.005
Bei der Bildung solcher Typen gerät man in eine schwere pse_296.006
Lage. Denn es tut sich ein Widerspruch zwischen Dauertypen pse_296.007
und geschichtlichen Gruppen auf. Schiller hat in seiner bekannten pse_296.008
Abhandlung "Über naive und sentimentalische Dichtung" pse_296.009
zwei Typen unterschieden: die naiven und die sentimentalischen pse_296.010
Dichter. Damit meint er zeitentbundene, überzeitliche, pse_296.011
ontologische Typen. Zugleich aber gehen in diese pse_296.012
Typen bei ihm auch geschichtliche Betrachtungen und Bindungen pse_296.013
ein. Denn nach Schillers Begriffsbestimmung gibt pse_296.014
es einen geschichtlichen Weg vom naiven zum sentimentalischen pse_296.015
Dichter: Wenn der Dichter infolge der Kulturentwicklung pse_296.016
aus dem Geborgensein in der Natur heraustritt, sich ihr pse_296.017
gegenüberstellt und sie endlich zu einem ersehnten Ideal umformt, pse_296.018
so liegt hier ein geschichtlicher Vorgang vor: die pse_296.019
beiden Typen sind nun auch geschichtlich bestimmt, und es pse_296.020
fehlt nur ein Schritt zur Epochenbezeichnung. Das ist besonders pse_296.021
deutlich bei Begriffen wie Realismus, Idealismus und pse_296.022
Romantik u. ä. Man kann unter diesen Gestaltungsformen bestimmte pse_296.023
geschichtliche Ausprägungen meinen und sie sogar pse_296.024
zeitmäßig abgrenzen: den Realismus in die Mitte des 19. Jahrhunderts, pse_296.025
die Romantik an seinen Anfang, den Idealismus ins pse_296.026
18. Jahrhundert. Aber man meint damit auch dichterische pse_296.027
Grundformen als dauernde Möglichkeiten und ewige Typen, pse_296.028
freilich mit dem Zusatz, daß sie in bestimmten geschichtlichen pse_296.029
Lagen besonders vordrängen. Wir stoßen hier auf eine Urspannung, pse_296.030
die in der menschlichen Welterfassung, im Geist pse_296.031
des Menschen begründet ist. Auf der einen Seite drängt der pse_296.032
Mensch auf das Dauernde: er hebt aus einer Lebenserfahrung pse_296.033
das Wesentliche heraus und vermag es in anderen Situationen pse_296.034
wiederzufinden. Dadurch hat er nicht nur eine Abstraktionsleistung pse_296.035
vollzogen, sondern auch diese neue Situation rascher pse_296.036
und sicherer geistig bewältigt. Die höchsten Leistungen dieser pse_296.037
Art sehen wir in der Logik und Mathematik. Man hat ja geglaubt, pse_296.038
daß etwa in der Urteilslehre dauernde Formen des

pse_296.001
wirken sich, abgesehen von den Bildungseinflüssen der pse_296.002
geschichtlichen Lage, auch die mannigfachen Erbverhangenheiten pse_296.003
aus, die den Menschen wieder weit in die Vergangenheit pse_296.004
zurückbinden.

pse_296.005
Bei der Bildung solcher Typen gerät man in eine schwere pse_296.006
Lage. Denn es tut sich ein Widerspruch zwischen Dauertypen pse_296.007
und geschichtlichen Gruppen auf. Schiller hat in seiner bekannten pse_296.008
Abhandlung »Über naive und sentimentalische Dichtung« pse_296.009
zwei Typen unterschieden: die naiven und die sentimentalischen pse_296.010
Dichter. Damit meint er zeitentbundene, überzeitliche, pse_296.011
ontologische Typen. Zugleich aber gehen in diese pse_296.012
Typen bei ihm auch geschichtliche Betrachtungen und Bindungen pse_296.013
ein. Denn nach Schillers Begriffsbestimmung gibt pse_296.014
es einen geschichtlichen Weg vom naiven zum sentimentalischen pse_296.015
Dichter: Wenn der Dichter infolge der Kulturentwicklung pse_296.016
aus dem Geborgensein in der Natur heraustritt, sich ihr pse_296.017
gegenüberstellt und sie endlich zu einem ersehnten Ideal umformt, pse_296.018
so liegt hier ein geschichtlicher Vorgang vor: die pse_296.019
beiden Typen sind nun auch geschichtlich bestimmt, und es pse_296.020
fehlt nur ein Schritt zur Epochenbezeichnung. Das ist besonders pse_296.021
deutlich bei Begriffen wie Realismus, Idealismus und pse_296.022
Romantik u. ä. Man kann unter diesen Gestaltungsformen bestimmte pse_296.023
geschichtliche Ausprägungen meinen und sie sogar pse_296.024
zeitmäßig abgrenzen: den Realismus in die Mitte des 19. Jahrhunderts, pse_296.025
die Romantik an seinen Anfang, den Idealismus ins pse_296.026
18. Jahrhundert. Aber man meint damit auch dichterische pse_296.027
Grundformen als dauernde Möglichkeiten und ewige Typen, pse_296.028
freilich mit dem Zusatz, daß sie in bestimmten geschichtlichen pse_296.029
Lagen besonders vordrängen. Wir stoßen hier auf eine Urspannung, pse_296.030
die in der menschlichen Welterfassung, im Geist pse_296.031
des Menschen begründet ist. Auf der einen Seite drängt der pse_296.032
Mensch auf das Dauernde: er hebt aus einer Lebenserfahrung pse_296.033
das Wesentliche heraus und vermag es in anderen Situationen pse_296.034
wiederzufinden. Dadurch hat er nicht nur eine Abstraktionsleistung pse_296.035
vollzogen, sondern auch diese neue Situation rascher pse_296.036
und sicherer geistig bewältigt. Die höchsten Leistungen dieser pse_296.037
Art sehen wir in der Logik und Mathematik. Man hat ja geglaubt, pse_296.038
daß etwa in der Urteilslehre dauernde Formen des

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0312" n="296"/><lb n="pse_296.001"/>
wirken sich, abgesehen von den Bildungseinflüssen der <lb n="pse_296.002"/>
geschichtlichen Lage, auch die mannigfachen Erbverhangenheiten <lb n="pse_296.003"/>
aus, die den Menschen wieder weit in die Vergangenheit <lb n="pse_296.004"/>
zurückbinden.</p>
            <p><lb n="pse_296.005"/>
Bei der Bildung solcher Typen gerät man in eine schwere <lb n="pse_296.006"/>
Lage. Denn es tut sich ein Widerspruch zwischen Dauertypen <lb n="pse_296.007"/>
und geschichtlichen Gruppen auf. Schiller hat in seiner bekannten <lb n="pse_296.008"/>
Abhandlung »Über naive und sentimentalische Dichtung« <lb n="pse_296.009"/>
zwei Typen unterschieden: die naiven und die sentimentalischen <lb n="pse_296.010"/>
Dichter. Damit meint er zeitentbundene, überzeitliche, <lb n="pse_296.011"/>
ontologische Typen. Zugleich aber gehen in diese <lb n="pse_296.012"/>
Typen bei ihm auch geschichtliche Betrachtungen und Bindungen <lb n="pse_296.013"/>
ein. Denn nach Schillers Begriffsbestimmung gibt <lb n="pse_296.014"/>
es einen geschichtlichen Weg vom naiven zum sentimentalischen <lb n="pse_296.015"/>
Dichter: Wenn der Dichter infolge der Kulturentwicklung <lb n="pse_296.016"/>
aus dem Geborgensein in der Natur heraustritt, sich ihr <lb n="pse_296.017"/>
gegenüberstellt und sie endlich zu einem ersehnten Ideal umformt, <lb n="pse_296.018"/>
so liegt hier ein geschichtlicher Vorgang vor: die <lb n="pse_296.019"/>
beiden Typen sind nun auch geschichtlich bestimmt, und es <lb n="pse_296.020"/>
fehlt nur ein Schritt zur Epochenbezeichnung. Das ist besonders <lb n="pse_296.021"/>
deutlich bei Begriffen wie Realismus, Idealismus und <lb n="pse_296.022"/>
Romantik u. ä. Man kann unter diesen Gestaltungsformen bestimmte <lb n="pse_296.023"/>
geschichtliche Ausprägungen meinen und sie sogar <lb n="pse_296.024"/>
zeitmäßig abgrenzen: den Realismus in die Mitte des 19. Jahrhunderts, <lb n="pse_296.025"/>
die Romantik an seinen Anfang, den Idealismus ins <lb n="pse_296.026"/>
18. Jahrhundert. Aber man meint damit auch dichterische <lb n="pse_296.027"/>
Grundformen als dauernde Möglichkeiten und ewige Typen, <lb n="pse_296.028"/>
freilich mit dem Zusatz, daß sie in bestimmten geschichtlichen <lb n="pse_296.029"/>
Lagen besonders vordrängen. Wir stoßen hier auf eine Urspannung, <lb n="pse_296.030"/>
die in der menschlichen Welterfassung, im Geist <lb n="pse_296.031"/>
des Menschen begründet ist. Auf der einen Seite drängt der <lb n="pse_296.032"/>
Mensch auf das Dauernde: er hebt aus einer Lebenserfahrung <lb n="pse_296.033"/>
das Wesentliche heraus und vermag es in anderen Situationen <lb n="pse_296.034"/>
wiederzufinden. Dadurch hat er nicht nur eine Abstraktionsleistung <lb n="pse_296.035"/>
vollzogen, sondern auch diese neue Situation rascher <lb n="pse_296.036"/>
und sicherer geistig bewältigt. Die höchsten Leistungen dieser <lb n="pse_296.037"/>
Art sehen wir in der Logik und Mathematik. Man hat ja geglaubt, <lb n="pse_296.038"/>
daß etwa in der Urteilslehre dauernde Formen des
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[296/0312] pse_296.001 wirken sich, abgesehen von den Bildungseinflüssen der pse_296.002 geschichtlichen Lage, auch die mannigfachen Erbverhangenheiten pse_296.003 aus, die den Menschen wieder weit in die Vergangenheit pse_296.004 zurückbinden. pse_296.005 Bei der Bildung solcher Typen gerät man in eine schwere pse_296.006 Lage. Denn es tut sich ein Widerspruch zwischen Dauertypen pse_296.007 und geschichtlichen Gruppen auf. Schiller hat in seiner bekannten pse_296.008 Abhandlung »Über naive und sentimentalische Dichtung« pse_296.009 zwei Typen unterschieden: die naiven und die sentimentalischen pse_296.010 Dichter. Damit meint er zeitentbundene, überzeitliche, pse_296.011 ontologische Typen. Zugleich aber gehen in diese pse_296.012 Typen bei ihm auch geschichtliche Betrachtungen und Bindungen pse_296.013 ein. Denn nach Schillers Begriffsbestimmung gibt pse_296.014 es einen geschichtlichen Weg vom naiven zum sentimentalischen pse_296.015 Dichter: Wenn der Dichter infolge der Kulturentwicklung pse_296.016 aus dem Geborgensein in der Natur heraustritt, sich ihr pse_296.017 gegenüberstellt und sie endlich zu einem ersehnten Ideal umformt, pse_296.018 so liegt hier ein geschichtlicher Vorgang vor: die pse_296.019 beiden Typen sind nun auch geschichtlich bestimmt, und es pse_296.020 fehlt nur ein Schritt zur Epochenbezeichnung. Das ist besonders pse_296.021 deutlich bei Begriffen wie Realismus, Idealismus und pse_296.022 Romantik u. ä. Man kann unter diesen Gestaltungsformen bestimmte pse_296.023 geschichtliche Ausprägungen meinen und sie sogar pse_296.024 zeitmäßig abgrenzen: den Realismus in die Mitte des 19. Jahrhunderts, pse_296.025 die Romantik an seinen Anfang, den Idealismus ins pse_296.026 18. Jahrhundert. Aber man meint damit auch dichterische pse_296.027 Grundformen als dauernde Möglichkeiten und ewige Typen, pse_296.028 freilich mit dem Zusatz, daß sie in bestimmten geschichtlichen pse_296.029 Lagen besonders vordrängen. Wir stoßen hier auf eine Urspannung, pse_296.030 die in der menschlichen Welterfassung, im Geist pse_296.031 des Menschen begründet ist. Auf der einen Seite drängt der pse_296.032 Mensch auf das Dauernde: er hebt aus einer Lebenserfahrung pse_296.033 das Wesentliche heraus und vermag es in anderen Situationen pse_296.034 wiederzufinden. Dadurch hat er nicht nur eine Abstraktionsleistung pse_296.035 vollzogen, sondern auch diese neue Situation rascher pse_296.036 und sicherer geistig bewältigt. Die höchsten Leistungen dieser pse_296.037 Art sehen wir in der Logik und Mathematik. Man hat ja geglaubt, pse_296.038 daß etwa in der Urteilslehre dauernde Formen des

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/312
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/312>, abgerufen am 21.11.2024.