Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_297.001
Denkens herausgelöst worden sind, ewige Grundformen pse_297.002
menschlichen Denkens. Die Geschichte der Urteilslehre rät zur pse_297.003
Vorsicht. Genau so erkennt man mit Recht, daß Kunst ins pse_297.004
Wesentliche vorzustoßen versucht, daß Urhaltungen, Ideen, pse_297.005
Dauerprägungen in ihr lebendig werden, daß also auch die pse_297.006
denkbaren Gestaltungsformen dem geschichtlichen Leben enthoben pse_297.007
seien. Und doch: der Mensch ist in jedem Augenblick pse_297.008
ein geschichtliches Wesen, hineingestellt in geschichtliche pse_297.009
Lagen, die sich dauernd ändern. Der Mensch steht vor dauernd pse_297.010
neuen Lagen, und man hat mit Recht gesagt, er bleibe keinen pse_297.011
Augenblick seines Lebens der gleiche. So sind auch seine pse_297.012
Werke in diese Geschichtlichkeit hineingestellt, auch die pse_297.013
Kunstwerke. Eine realistische Prägung sieht im Mittelalter pse_297.014
anders aus als im 19. Jahrhundert und heute schon wieder pse_297.015
anders als vor 100 Jahren. Kann man von Barock auch außerhalb pse_297.016
der bekannten Epoche reden oder von staufischer Klassik, pse_297.017
ohne dabei die Begriffe selbst zu verschieben? Wir können pse_297.018
dieser Spannung nicht entfliehen. Es bleiben in ihr nur zwei pse_297.019
gangbare Wege: man geht von den geschichtlichen Gegebenheiten pse_297.020
einer bestimmten Epoche auch in der Kunst aus und pse_297.021
sucht aus den Verwirklichungen in den einzelnen Kunstwerken pse_297.022
zu den wesenhaften Grundformen vorzustoßen, die zwar pse_297.023
keine Realität haben, aber eine Wirklichkeit in unserem Geiste pse_297.024
bilden und uns helfen, Kunstmöglichkeiten deutlich zu erfassen. pse_297.025
Oder man nimmt von vornherein solche Grundformen pse_297.026
an und schaut, wie sie sich in den einzelnen Epochen und pse_297.027
Kunstwerken verwirklichen.

pse_297.028
Bei der Gewinnung solcher Gestaltungsformen bildet der pse_297.029
Grundsatz der Polarität eine Hilfe: jeder reinen, idealen Form pse_297.030
entspricht eine gegensätzliche, die aus der Wesenserkenntnis pse_297.031
der ersten geradezu abgeleitet werden kann. Das gilt besonders pse_297.032
von den Idealen, die in schöpferisch berechtigter Einseitigkeit pse_297.033
von Dichtern aufgestellt oder verwirklicht werden. pse_297.034
Zu jedem solchen findet sich ein Gegenideal. Hier steckt ein pse_297.035
Stück geschichtlicher Dialektik, die dann Hegel zum umfassenden pse_297.036
Weltprinzip gemacht hat. Nur muß man bei solchen pse_297.037
Gegensatzpaaren immer im einmal gezogenen Bereich eines pse_297.038
Kunstgebietes bleiben. Dabei zeigt sich, daß zwei solche

pse_297.001
Denkens herausgelöst worden sind, ewige Grundformen pse_297.002
menschlichen Denkens. Die Geschichte der Urteilslehre rät zur pse_297.003
Vorsicht. Genau so erkennt man mit Recht, daß Kunst ins pse_297.004
Wesentliche vorzustoßen versucht, daß Urhaltungen, Ideen, pse_297.005
Dauerprägungen in ihr lebendig werden, daß also auch die pse_297.006
denkbaren Gestaltungsformen dem geschichtlichen Leben enthoben pse_297.007
seien. Und doch: der Mensch ist in jedem Augenblick pse_297.008
ein geschichtliches Wesen, hineingestellt in geschichtliche pse_297.009
Lagen, die sich dauernd ändern. Der Mensch steht vor dauernd pse_297.010
neuen Lagen, und man hat mit Recht gesagt, er bleibe keinen pse_297.011
Augenblick seines Lebens der gleiche. So sind auch seine pse_297.012
Werke in diese Geschichtlichkeit hineingestellt, auch die pse_297.013
Kunstwerke. Eine realistische Prägung sieht im Mittelalter pse_297.014
anders aus als im 19. Jahrhundert und heute schon wieder pse_297.015
anders als vor 100 Jahren. Kann man von Barock auch außerhalb pse_297.016
der bekannten Epoche reden oder von staufischer Klassik, pse_297.017
ohne dabei die Begriffe selbst zu verschieben? Wir können pse_297.018
dieser Spannung nicht entfliehen. Es bleiben in ihr nur zwei pse_297.019
gangbare Wege: man geht von den geschichtlichen Gegebenheiten pse_297.020
einer bestimmten Epoche auch in der Kunst aus und pse_297.021
sucht aus den Verwirklichungen in den einzelnen Kunstwerken pse_297.022
zu den wesenhaften Grundformen vorzustoßen, die zwar pse_297.023
keine Realität haben, aber eine Wirklichkeit in unserem Geiste pse_297.024
bilden und uns helfen, Kunstmöglichkeiten deutlich zu erfassen. pse_297.025
Oder man nimmt von vornherein solche Grundformen pse_297.026
an und schaut, wie sie sich in den einzelnen Epochen und pse_297.027
Kunstwerken verwirklichen.

pse_297.028
Bei der Gewinnung solcher Gestaltungsformen bildet der pse_297.029
Grundsatz der Polarität eine Hilfe: jeder reinen, idealen Form pse_297.030
entspricht eine gegensätzliche, die aus der Wesenserkenntnis pse_297.031
der ersten geradezu abgeleitet werden kann. Das gilt besonders pse_297.032
von den Idealen, die in schöpferisch berechtigter Einseitigkeit pse_297.033
von Dichtern aufgestellt oder verwirklicht werden. pse_297.034
Zu jedem solchen findet sich ein Gegenideal. Hier steckt ein pse_297.035
Stück geschichtlicher Dialektik, die dann Hegel zum umfassenden pse_297.036
Weltprinzip gemacht hat. Nur muß man bei solchen pse_297.037
Gegensatzpaaren immer im einmal gezogenen Bereich eines pse_297.038
Kunstgebietes bleiben. Dabei zeigt sich, daß zwei solche

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0313" n="297"/><lb n="pse_297.001"/>
Denkens herausgelöst worden sind, ewige Grundformen <lb n="pse_297.002"/>
menschlichen Denkens. Die Geschichte der Urteilslehre rät zur <lb n="pse_297.003"/>
Vorsicht. Genau so erkennt man mit Recht, daß Kunst ins <lb n="pse_297.004"/>
Wesentliche vorzustoßen versucht, daß Urhaltungen, Ideen, <lb n="pse_297.005"/>
Dauerprägungen in ihr lebendig werden, daß also auch die <lb n="pse_297.006"/>
denkbaren Gestaltungsformen dem geschichtlichen Leben enthoben <lb n="pse_297.007"/>
seien. Und doch: der Mensch ist in jedem Augenblick <lb n="pse_297.008"/>
ein geschichtliches Wesen, hineingestellt in geschichtliche <lb n="pse_297.009"/>
Lagen, die sich dauernd ändern. Der Mensch steht vor dauernd <lb n="pse_297.010"/>
neuen Lagen, und man hat mit Recht gesagt, er bleibe keinen <lb n="pse_297.011"/>
Augenblick seines Lebens der gleiche. So sind auch seine <lb n="pse_297.012"/>
Werke in diese Geschichtlichkeit hineingestellt, auch die <lb n="pse_297.013"/>
Kunstwerke. Eine realistische Prägung sieht im Mittelalter <lb n="pse_297.014"/>
anders aus als im 19. Jahrhundert und heute schon wieder <lb n="pse_297.015"/>
anders als vor 100 Jahren. Kann man von Barock auch außerhalb <lb n="pse_297.016"/>
der bekannten Epoche reden oder von staufischer Klassik, <lb n="pse_297.017"/>
ohne dabei die Begriffe selbst zu verschieben? Wir können <lb n="pse_297.018"/>
dieser Spannung nicht entfliehen. Es bleiben in ihr nur zwei <lb n="pse_297.019"/>
gangbare Wege: man geht von den geschichtlichen Gegebenheiten <lb n="pse_297.020"/>
einer bestimmten Epoche auch in der Kunst aus und <lb n="pse_297.021"/>
sucht aus den Verwirklichungen in den einzelnen Kunstwerken <lb n="pse_297.022"/>
zu den wesenhaften Grundformen vorzustoßen, die zwar <lb n="pse_297.023"/>
keine Realität haben, aber eine Wirklichkeit in unserem Geiste <lb n="pse_297.024"/>
bilden und uns helfen, Kunstmöglichkeiten deutlich zu erfassen. <lb n="pse_297.025"/>
Oder man nimmt von vornherein solche Grundformen <lb n="pse_297.026"/>
an und schaut, wie sie sich in den einzelnen Epochen und <lb n="pse_297.027"/>
Kunstwerken verwirklichen.</p>
            <p><lb n="pse_297.028"/>
Bei der Gewinnung solcher Gestaltungsformen bildet der <lb n="pse_297.029"/>
Grundsatz der Polarität eine Hilfe: jeder reinen, idealen Form <lb n="pse_297.030"/>
entspricht eine gegensätzliche, die aus der Wesenserkenntnis <lb n="pse_297.031"/>
der ersten geradezu abgeleitet werden kann. Das gilt besonders <lb n="pse_297.032"/>
von den Idealen, die in schöpferisch berechtigter Einseitigkeit <lb n="pse_297.033"/>
von Dichtern aufgestellt oder verwirklicht werden. <lb n="pse_297.034"/>
Zu jedem solchen findet sich ein Gegenideal. Hier steckt ein <lb n="pse_297.035"/>
Stück geschichtlicher Dialektik, die dann Hegel zum umfassenden <lb n="pse_297.036"/>
Weltprinzip gemacht hat. Nur muß man bei solchen <lb n="pse_297.037"/>
Gegensatzpaaren immer im einmal gezogenen Bereich eines <lb n="pse_297.038"/>
Kunstgebietes bleiben. Dabei zeigt sich, daß zwei solche
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[297/0313] pse_297.001 Denkens herausgelöst worden sind, ewige Grundformen pse_297.002 menschlichen Denkens. Die Geschichte der Urteilslehre rät zur pse_297.003 Vorsicht. Genau so erkennt man mit Recht, daß Kunst ins pse_297.004 Wesentliche vorzustoßen versucht, daß Urhaltungen, Ideen, pse_297.005 Dauerprägungen in ihr lebendig werden, daß also auch die pse_297.006 denkbaren Gestaltungsformen dem geschichtlichen Leben enthoben pse_297.007 seien. Und doch: der Mensch ist in jedem Augenblick pse_297.008 ein geschichtliches Wesen, hineingestellt in geschichtliche pse_297.009 Lagen, die sich dauernd ändern. Der Mensch steht vor dauernd pse_297.010 neuen Lagen, und man hat mit Recht gesagt, er bleibe keinen pse_297.011 Augenblick seines Lebens der gleiche. So sind auch seine pse_297.012 Werke in diese Geschichtlichkeit hineingestellt, auch die pse_297.013 Kunstwerke. Eine realistische Prägung sieht im Mittelalter pse_297.014 anders aus als im 19. Jahrhundert und heute schon wieder pse_297.015 anders als vor 100 Jahren. Kann man von Barock auch außerhalb pse_297.016 der bekannten Epoche reden oder von staufischer Klassik, pse_297.017 ohne dabei die Begriffe selbst zu verschieben? Wir können pse_297.018 dieser Spannung nicht entfliehen. Es bleiben in ihr nur zwei pse_297.019 gangbare Wege: man geht von den geschichtlichen Gegebenheiten pse_297.020 einer bestimmten Epoche auch in der Kunst aus und pse_297.021 sucht aus den Verwirklichungen in den einzelnen Kunstwerken pse_297.022 zu den wesenhaften Grundformen vorzustoßen, die zwar pse_297.023 keine Realität haben, aber eine Wirklichkeit in unserem Geiste pse_297.024 bilden und uns helfen, Kunstmöglichkeiten deutlich zu erfassen. pse_297.025 Oder man nimmt von vornherein solche Grundformen pse_297.026 an und schaut, wie sie sich in den einzelnen Epochen und pse_297.027 Kunstwerken verwirklichen. pse_297.028 Bei der Gewinnung solcher Gestaltungsformen bildet der pse_297.029 Grundsatz der Polarität eine Hilfe: jeder reinen, idealen Form pse_297.030 entspricht eine gegensätzliche, die aus der Wesenserkenntnis pse_297.031 der ersten geradezu abgeleitet werden kann. Das gilt besonders pse_297.032 von den Idealen, die in schöpferisch berechtigter Einseitigkeit pse_297.033 von Dichtern aufgestellt oder verwirklicht werden. pse_297.034 Zu jedem solchen findet sich ein Gegenideal. Hier steckt ein pse_297.035 Stück geschichtlicher Dialektik, die dann Hegel zum umfassenden pse_297.036 Weltprinzip gemacht hat. Nur muß man bei solchen pse_297.037 Gegensatzpaaren immer im einmal gezogenen Bereich eines pse_297.038 Kunstgebietes bleiben. Dabei zeigt sich, daß zwei solche

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/313
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/313>, abgerufen am 21.11.2024.