pse_299.001 Sehr bekannt ist die Typologie Wölfflins geworden, die er pse_299.002 zunächst für die bildenden Künste der Renaissance und des pse_299.003 Barock aufgestellt hat; er hat diese beiden Gestaltungsformen pse_299.004 durch folgende fünf Gegensatzpaare zu kennzeichnen versucht, pse_299.005 wobei die erste Kennzeichnung immer die Renaissance trifft: pse_299.006 linear -- malerisch, flächenhaft -- tiefenhaft, geschlossene Form pse_299.007 -- offene Form, vielheitlich -- einheitlich, absolute Klarheit -- pse_299.008 relative Klarheit. Man hat versucht, diese Typen auf die Dichtung pse_299.009 anzuwenden (Walzel). Man hat auch Zusammenfassungen pse_299.010 vorgenommen, die der Dichtung eher angepaßt sein pse_299.011 sollen: Spoerri hat die beiden ersten Paare unter Begrenzung pse_299.012 und Auflösung zusammengefaßt, die beiden letzten unter pse_299.013 Bindung und Lösung und das mittlere als Gliederung und pse_299.014 Verschmelzung bezeichnet. Die verschiedenen Möglichkeiten pse_299.015 schon des Aufbaus einer Dichtung könnten sicher oft pse_299.016 mit diesen Begriffspaaren gefaßt werden. Es bleibt immer die pse_299.017 Frage, ob dabei nicht das spezifisch Dichterische, das auf der pse_299.018 Sprachkunst gründet, verwischt wird.
pse_299.019 Wenn wir versuchen, auf eigenen Wegen zu Typen der pse_299.020 Gestaltungsformen zu kommen, muß zunächst festgehalten pse_299.021 werden, daß es kein geschlossenes und strenges System gibt. pse_299.022 Daher muß man die Möglichkeiten von verschiedenen Seiten pse_299.023 her beleuchten. Man hat zu beachten, wie der Bezug zur pse_299.024 außersprachlichen Wirklichkeit gestaltet ist, wie die Verwesentlichung pse_299.025 durchgeführt wird, welches Weltbild geformt pse_299.026 wird, wie die sprachkünstlerische Formung durchgeführt pse_299.027 wird, wie der Aufbau aussieht und welche Gestaltungsebene pse_299.028 zugrunde liegt. Also auf eine Fülle von Formzügen hat man zu pse_299.029 achten, will man zu umfassenden und eindringlichen Formen pse_299.030 gelangen.
pse_299.031 Wir wollen zwei Typenpaare auseinanderhalten und genauer pse_299.032 betrachten: Das eine ist Idealismus und Realismus. pse_299.033 Diese Formen entfalten sich dann in bestimmte Unterarten. pse_299.034 Das andere Typenpaar ist: Klassik und ihre Gegenrichtungen. pse_299.035 Es wird sich zeigen, daß man tatsächlich zu Klassik nicht pse_299.036 einen Gegentypus aufstellen kann, sondern daß hier mehrere pse_299.037 als Gegenideale in Frage kommen.
pse_299.038 Wir beginnen mit dem Gegensatz Idealismus -- Realismus.
pse_299.001 Sehr bekannt ist die Typologie Wölfflins geworden, die er pse_299.002 zunächst für die bildenden Künste der Renaissance und des pse_299.003 Barock aufgestellt hat; er hat diese beiden Gestaltungsformen pse_299.004 durch folgende fünf Gegensatzpaare zu kennzeichnen versucht, pse_299.005 wobei die erste Kennzeichnung immer die Renaissance trifft: pse_299.006 linear — malerisch, flächenhaft — tiefenhaft, geschlossene Form pse_299.007 — offene Form, vielheitlich — einheitlich, absolute Klarheit — pse_299.008 relative Klarheit. Man hat versucht, diese Typen auf die Dichtung pse_299.009 anzuwenden (Walzel). Man hat auch Zusammenfassungen pse_299.010 vorgenommen, die der Dichtung eher angepaßt sein pse_299.011 sollen: Spoerri hat die beiden ersten Paare unter Begrenzung pse_299.012 und Auflösung zusammengefaßt, die beiden letzten unter pse_299.013 Bindung und Lösung und das mittlere als Gliederung und pse_299.014 Verschmelzung bezeichnet. Die verschiedenen Möglichkeiten pse_299.015 schon des Aufbaus einer Dichtung könnten sicher oft pse_299.016 mit diesen Begriffspaaren gefaßt werden. Es bleibt immer die pse_299.017 Frage, ob dabei nicht das spezifisch Dichterische, das auf der pse_299.018 Sprachkunst gründet, verwischt wird.
pse_299.019 Wenn wir versuchen, auf eigenen Wegen zu Typen der pse_299.020 Gestaltungsformen zu kommen, muß zunächst festgehalten pse_299.021 werden, daß es kein geschlossenes und strenges System gibt. pse_299.022 Daher muß man die Möglichkeiten von verschiedenen Seiten pse_299.023 her beleuchten. Man hat zu beachten, wie der Bezug zur pse_299.024 außersprachlichen Wirklichkeit gestaltet ist, wie die Verwesentlichung pse_299.025 durchgeführt wird, welches Weltbild geformt pse_299.026 wird, wie die sprachkünstlerische Formung durchgeführt pse_299.027 wird, wie der Aufbau aussieht und welche Gestaltungsebene pse_299.028 zugrunde liegt. Also auf eine Fülle von Formzügen hat man zu pse_299.029 achten, will man zu umfassenden und eindringlichen Formen pse_299.030 gelangen.
pse_299.031 Wir wollen zwei Typenpaare auseinanderhalten und genauer pse_299.032 betrachten: Das eine ist Idealismus und Realismus. pse_299.033 Diese Formen entfalten sich dann in bestimmte Unterarten. pse_299.034 Das andere Typenpaar ist: Klassik und ihre Gegenrichtungen. pse_299.035 Es wird sich zeigen, daß man tatsächlich zu Klassik nicht pse_299.036 einen Gegentypus aufstellen kann, sondern daß hier mehrere pse_299.037 als Gegenideale in Frage kommen.
pse_299.038 Wir beginnen mit dem Gegensatz Idealismus — Realismus.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0315"n="299"/><p><lbn="pse_299.001"/>
Sehr bekannt ist die Typologie Wölfflins geworden, die er <lbn="pse_299.002"/>
zunächst für die bildenden Künste der Renaissance und des <lbn="pse_299.003"/>
Barock aufgestellt hat; er hat diese beiden Gestaltungsformen <lbn="pse_299.004"/>
durch folgende fünf Gegensatzpaare zu kennzeichnen versucht, <lbn="pse_299.005"/>
wobei die erste Kennzeichnung immer die Renaissance trifft: <lbn="pse_299.006"/>
linear — malerisch, flächenhaft — tiefenhaft, geschlossene Form <lbn="pse_299.007"/>— offene Form, vielheitlich — einheitlich, absolute Klarheit —<lbn="pse_299.008"/>
relative Klarheit. Man hat versucht, diese Typen auf die Dichtung <lbn="pse_299.009"/>
anzuwenden (Walzel). Man hat auch Zusammenfassungen <lbn="pse_299.010"/>
vorgenommen, die der Dichtung eher angepaßt sein <lbn="pse_299.011"/>
sollen: Spoerri hat die beiden ersten Paare unter Begrenzung <lbn="pse_299.012"/>
und Auflösung zusammengefaßt, die beiden letzten unter <lbn="pse_299.013"/>
Bindung und Lösung und das mittlere als Gliederung und <lbn="pse_299.014"/>
Verschmelzung bezeichnet. Die verschiedenen Möglichkeiten <lbn="pse_299.015"/>
schon des Aufbaus einer Dichtung könnten sicher oft <lbn="pse_299.016"/>
mit diesen Begriffspaaren gefaßt werden. Es bleibt immer die <lbn="pse_299.017"/>
Frage, ob dabei nicht das spezifisch Dichterische, das auf der <lbn="pse_299.018"/>
Sprachkunst gründet, verwischt wird.</p><p><lbn="pse_299.019"/>
Wenn wir versuchen, auf eigenen Wegen zu Typen der <lbn="pse_299.020"/>
Gestaltungsformen zu kommen, muß zunächst festgehalten <lbn="pse_299.021"/>
werden, daß es kein geschlossenes und strenges System gibt. <lbn="pse_299.022"/>
Daher muß man die Möglichkeiten von verschiedenen Seiten <lbn="pse_299.023"/>
her beleuchten. Man hat zu beachten, wie der Bezug zur <lbn="pse_299.024"/>
außersprachlichen Wirklichkeit gestaltet ist, wie die Verwesentlichung <lbn="pse_299.025"/>
durchgeführt wird, welches Weltbild geformt <lbn="pse_299.026"/>
wird, wie die sprachkünstlerische Formung durchgeführt <lbn="pse_299.027"/>
wird, wie der Aufbau aussieht und welche Gestaltungsebene <lbn="pse_299.028"/>
zugrunde liegt. Also auf eine Fülle von Formzügen hat man zu <lbn="pse_299.029"/>
achten, will man zu umfassenden und eindringlichen Formen <lbn="pse_299.030"/>
gelangen.</p><p><lbn="pse_299.031"/>
Wir wollen zwei Typenpaare auseinanderhalten und genauer <lbn="pse_299.032"/>
betrachten: Das eine ist Idealismus und Realismus. <lbn="pse_299.033"/>
Diese Formen entfalten sich dann in bestimmte Unterarten. <lbn="pse_299.034"/>
Das andere Typenpaar ist: Klassik und ihre Gegenrichtungen. <lbn="pse_299.035"/>
Es wird sich zeigen, daß man tatsächlich zu Klassik nicht <lbn="pse_299.036"/>
einen Gegentypus aufstellen kann, sondern daß hier mehrere <lbn="pse_299.037"/>
als Gegenideale in Frage kommen.</p><p><lbn="pse_299.038"/>
Wir beginnen mit dem Gegensatz <hirendition="#i">Idealismus — Realismus.</hi></p></div></div></div></body></text></TEI>
[299/0315]
pse_299.001
Sehr bekannt ist die Typologie Wölfflins geworden, die er pse_299.002
zunächst für die bildenden Künste der Renaissance und des pse_299.003
Barock aufgestellt hat; er hat diese beiden Gestaltungsformen pse_299.004
durch folgende fünf Gegensatzpaare zu kennzeichnen versucht, pse_299.005
wobei die erste Kennzeichnung immer die Renaissance trifft: pse_299.006
linear — malerisch, flächenhaft — tiefenhaft, geschlossene Form pse_299.007
— offene Form, vielheitlich — einheitlich, absolute Klarheit — pse_299.008
relative Klarheit. Man hat versucht, diese Typen auf die Dichtung pse_299.009
anzuwenden (Walzel). Man hat auch Zusammenfassungen pse_299.010
vorgenommen, die der Dichtung eher angepaßt sein pse_299.011
sollen: Spoerri hat die beiden ersten Paare unter Begrenzung pse_299.012
und Auflösung zusammengefaßt, die beiden letzten unter pse_299.013
Bindung und Lösung und das mittlere als Gliederung und pse_299.014
Verschmelzung bezeichnet. Die verschiedenen Möglichkeiten pse_299.015
schon des Aufbaus einer Dichtung könnten sicher oft pse_299.016
mit diesen Begriffspaaren gefaßt werden. Es bleibt immer die pse_299.017
Frage, ob dabei nicht das spezifisch Dichterische, das auf der pse_299.018
Sprachkunst gründet, verwischt wird.
pse_299.019
Wenn wir versuchen, auf eigenen Wegen zu Typen der pse_299.020
Gestaltungsformen zu kommen, muß zunächst festgehalten pse_299.021
werden, daß es kein geschlossenes und strenges System gibt. pse_299.022
Daher muß man die Möglichkeiten von verschiedenen Seiten pse_299.023
her beleuchten. Man hat zu beachten, wie der Bezug zur pse_299.024
außersprachlichen Wirklichkeit gestaltet ist, wie die Verwesentlichung pse_299.025
durchgeführt wird, welches Weltbild geformt pse_299.026
wird, wie die sprachkünstlerische Formung durchgeführt pse_299.027
wird, wie der Aufbau aussieht und welche Gestaltungsebene pse_299.028
zugrunde liegt. Also auf eine Fülle von Formzügen hat man zu pse_299.029
achten, will man zu umfassenden und eindringlichen Formen pse_299.030
gelangen.
pse_299.031
Wir wollen zwei Typenpaare auseinanderhalten und genauer pse_299.032
betrachten: Das eine ist Idealismus und Realismus. pse_299.033
Diese Formen entfalten sich dann in bestimmte Unterarten. pse_299.034
Das andere Typenpaar ist: Klassik und ihre Gegenrichtungen. pse_299.035
Es wird sich zeigen, daß man tatsächlich zu Klassik nicht pse_299.036
einen Gegentypus aufstellen kann, sondern daß hier mehrere pse_299.037
als Gegenideale in Frage kommen.
pse_299.038
Wir beginnen mit dem Gegensatz Idealismus — Realismus.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/315>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.