pse_020.001 Chorwerken, wie den Passionsmusiken Bachs, den Messen pse_020.002 Bruckners, dem Deutschen Requiem von Brahms, hat man pse_020.003 doch immer wieder den Eindruck, daß der "Text" eine mehr pse_020.004 dienende Rolle hat, daß große Dichtung dazu nicht unbedingt pse_020.005 nötig ist. Ich erinnere hier an die ganz verschiedene pse_020.006 Deutung des Schlußsatzes der Neunten von Beethoven durch pse_020.007 Wagner und Nietzsche. Wagner, der ja theoretisch auch in pse_020.008 seinen Werken dem dichterischen Wort eine entscheidende pse_020.009 Rolle geben wollte, deutet hier die Musik aus den Versen pse_020.010 Schillers; Nietzsche dagegen sieht das Entscheidende im gespannt pse_020.011 erwarteten Einsatz eines neuen Instruments und Klangkörpers: pse_020.012 der menschlichen Stimme, wobei der Text sehr pse_020.013 untergeordnet erscheint. Wir müssen aber noch näher die pse_020.014 Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Musik und Dichtung pse_020.015 als Kunstgattungen beachten. Gemeinsam ist beiden pse_020.016 der Charakter des Verlaufs und die Hörbarkeit. Beide kennen pse_020.017 Rhythmus, Takt, Tonhöhe, Melodie. Aber damit sind wir pse_020.018 am Ende, und dazu treten nun wichtige Unterschiede. Die pse_020.019 Musik kennt kein solches Element wie das Wort. Laut und pse_020.020 Satz könnten zur Not mit Ton und Tonfolge bestimmter Art pse_020.021 verglichen werden. Aber dem Wort, das immer, wie wir pse_020.022 sehen werden, etwas Rationales in sich hat, entspricht nichts pse_020.023 in der Musik. Rhythmus und Takt sind in der Sprache und pse_020.024 der Sprachkunst nicht so festgefügt wie in der Musik, Tonhöhe pse_020.025 und Melodie spielen nicht die Rolle wie in der Tonkunst; pse_020.026 vor allem aber sind die Klangfarben in der Sprache viel bedeutungsvoller: pse_020.027 die feste Artikulation der Laute und Lautfügungen pse_020.028 unterscheidet diese Laute sowohl von den Tönen pse_020.029 als auch von den Geräuschen als ein bereits vom Menschen pse_020.030 geformtes Element, also etwas Geistiges.
pse_020.031 Die bisherigen Überlegungen haben etwas ganz Entscheidendes pse_020.032 ergeben: die Dichtung scheint eine Sonderstellung pse_020.033 innerhalb der Künste zu haben, nicht nur durch die grundlegenden pse_020.034 Verschiedenheiten gegenüber den bildenden Künsten, pse_020.035 sondern auch durch weit- und tiefgehende Unterschiede pse_020.036 gegenüber der Musik. Daß sie auch Kunst ist, also ein ästhetischer pse_020.037 Gegenstand, willentlich vom Menschen geschaffen, pse_020.038 ist Voraussetzung, läßt sich aus dem Bisherigen schon erkennen,
pse_020.001 Chorwerken, wie den Passionsmusiken Bachs, den Messen pse_020.002 Bruckners, dem Deutschen Requiem von Brahms, hat man pse_020.003 doch immer wieder den Eindruck, daß der »Text« eine mehr pse_020.004 dienende Rolle hat, daß große Dichtung dazu nicht unbedingt pse_020.005 nötig ist. Ich erinnere hier an die ganz verschiedene pse_020.006 Deutung des Schlußsatzes der Neunten von Beethoven durch pse_020.007 Wagner und Nietzsche. Wagner, der ja theoretisch auch in pse_020.008 seinen Werken dem dichterischen Wort eine entscheidende pse_020.009 Rolle geben wollte, deutet hier die Musik aus den Versen pse_020.010 Schillers; Nietzsche dagegen sieht das Entscheidende im gespannt pse_020.011 erwarteten Einsatz eines neuen Instruments und Klangkörpers: pse_020.012 der menschlichen Stimme, wobei der Text sehr pse_020.013 untergeordnet erscheint. Wir müssen aber noch näher die pse_020.014 Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Musik und Dichtung pse_020.015 als Kunstgattungen beachten. Gemeinsam ist beiden pse_020.016 der Charakter des Verlaufs und die Hörbarkeit. Beide kennen pse_020.017 Rhythmus, Takt, Tonhöhe, Melodie. Aber damit sind wir pse_020.018 am Ende, und dazu treten nun wichtige Unterschiede. Die pse_020.019 Musik kennt kein solches Element wie das Wort. Laut und pse_020.020 Satz könnten zur Not mit Ton und Tonfolge bestimmter Art pse_020.021 verglichen werden. Aber dem Wort, das immer, wie wir pse_020.022 sehen werden, etwas Rationales in sich hat, entspricht nichts pse_020.023 in der Musik. Rhythmus und Takt sind in der Sprache und pse_020.024 der Sprachkunst nicht so festgefügt wie in der Musik, Tonhöhe pse_020.025 und Melodie spielen nicht die Rolle wie in der Tonkunst; pse_020.026 vor allem aber sind die Klangfarben in der Sprache viel bedeutungsvoller: pse_020.027 die feste Artikulation der Laute und Lautfügungen pse_020.028 unterscheidet diese Laute sowohl von den Tönen pse_020.029 als auch von den Geräuschen als ein bereits vom Menschen pse_020.030 geformtes Element, also etwas Geistiges.
pse_020.031 Die bisherigen Überlegungen haben etwas ganz Entscheidendes pse_020.032 ergeben: die Dichtung scheint eine Sonderstellung pse_020.033 innerhalb der Künste zu haben, nicht nur durch die grundlegenden pse_020.034 Verschiedenheiten gegenüber den bildenden Künsten, pse_020.035 sondern auch durch weit- und tiefgehende Unterschiede pse_020.036 gegenüber der Musik. Daß sie auch Kunst ist, also ein ästhetischer pse_020.037 Gegenstand, willentlich vom Menschen geschaffen, pse_020.038 ist Voraussetzung, läßt sich aus dem Bisherigen schon erkennen,
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Chorwerken, wie den Passionsmusiken Bachs, den Messen pse_020.002
Bruckners, dem Deutschen Requiem von Brahms, hat man pse_020.003
doch immer wieder den Eindruck, daß der »Text« eine mehr pse_020.004
dienende Rolle hat, daß große Dichtung dazu nicht unbedingt pse_020.005
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Wagner und Nietzsche. Wagner, der ja theoretisch auch in pse_020.008
seinen Werken dem dichterischen Wort eine entscheidende pse_020.009
Rolle geben wollte, deutet hier die Musik aus den Versen pse_020.010
Schillers; Nietzsche dagegen sieht das Entscheidende im gespannt pse_020.011
erwarteten Einsatz eines neuen Instruments und Klangkörpers: pse_020.012
der menschlichen Stimme, wobei der Text sehr pse_020.013
untergeordnet erscheint. Wir müssen aber noch näher die pse_020.014
Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Musik und Dichtung pse_020.015
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der Charakter des Verlaufs und die Hörbarkeit. Beide kennen pse_020.017
Rhythmus, Takt, Tonhöhe, Melodie. Aber damit sind wir pse_020.018
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Musik kennt kein solches Element wie das Wort. Laut und pse_020.020
Satz könnten zur Not mit Ton und Tonfolge bestimmter Art pse_020.021
verglichen werden. Aber dem Wort, das immer, wie wir pse_020.022
sehen werden, etwas Rationales in sich hat, entspricht nichts pse_020.023
in der Musik. Rhythmus und Takt sind in der Sprache und pse_020.024
der Sprachkunst nicht so festgefügt wie in der Musik, Tonhöhe pse_020.025
und Melodie spielen nicht die Rolle wie in der Tonkunst; pse_020.026
vor allem aber sind die Klangfarben in der Sprache viel bedeutungsvoller: pse_020.027
die feste Artikulation der Laute und Lautfügungen pse_020.028
unterscheidet diese Laute sowohl von den Tönen pse_020.029
als auch von den Geräuschen als ein bereits vom Menschen pse_020.030
geformtes Element, also etwas Geistiges.
pse_020.031
Die bisherigen Überlegungen haben etwas ganz Entscheidendes pse_020.032
ergeben: die Dichtung scheint eine Sonderstellung pse_020.033
innerhalb der Künste zu haben, nicht nur durch die grundlegenden pse_020.034
Verschiedenheiten gegenüber den bildenden Künsten, pse_020.035
sondern auch durch weit- und tiefgehende Unterschiede pse_020.036
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Gegenstand, willentlich vom Menschen geschaffen, pse_020.038
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/36>, abgerufen am 03.12.2024.
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