pse_346.001 Ausdruck Novelle kennt der Engländer nicht, denn >short pse_346.002 story< ist nicht Novelle, der deutsche Ausdruck Kurzgeschichte pse_346.003 ist eine Lehnübersetzung. Alle diese Überschneidungen, pse_346.004 vor allem auch die Tatsache, daß die Einteilung Lyrik -- pse_346.005 Epik -- Dramatik im Englischen nicht genau wiedergegeben pse_346.006 werden kann, zeigen: Die geistige Gliederung aller Bereiche pse_346.007 der Dichtung ist in den zwei Sprachen verschieden, damit pse_346.008 auch die ordnende Sicht auf alle Gebiete der Dichtung. Die pse_346.009 Engländer sehen in ihrer Poetik aus ihrer Sprache heraus pse_346.010 andere Probleme als die Deutschen. Daraus ergibt sich die pse_346.011 Tatsache, daß die poetischen Erörterungen zunächst immer pse_346.012 auf eine bestimmte Sprachgemeinschaft beschränkt sind. Auch pse_346.013 was in diesem Buch dargestellt wird, geht von der deutschen pse_346.014 Sichtweise aus. Man muß sich also immer bewußt bleiben, daß pse_346.015 die einzelnen Sprachgemeinschaften je in ihrer Weise zu den pse_346.016 Fragen der Dichtung Stellung nehmen. Das mag eine Einseitigkeit pse_346.017 sein; sie kann aber nicht vermieden werden. Zugleich pse_346.018 lernt so der geistig Aufgeschlossene auch die anderen Sichten pse_346.019 kennen, und sie alle runden sich doch zu einem langsam werdenden pse_346.020 Gesamtbild von den Möglichkeiten dichterischer Gestaltung.
pse_346.021
pse_346.022 Eine weitere Ursache für die Verworrenheit ist die Geschichte pse_346.023 der Fachsprache der Poetik. Nur kurz sei gesagt, daß pse_346.024 die heute übliche Scheidung von Lyrik, Epik und Dramatik pse_346.025 nichts Naturgegebenes ist, sondern daß diese Gruppierung in pse_346.026 Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts, in Frankreich erst pse_346.027 in der Mitte des 19. Jahrhunderts üblich wird. Die Geschichte pse_346.028 der Einteilung spiegelt geistige Wandlungen des Abendlandes. pse_346.029 Eine Einheitlichkeit in der Einteilung der Dichtungsgattungen pse_346.030 gab und gibt es nicht, auch der Gehalt der Worte Lyrik, Epik pse_346.031 und Dramatik hat sich im Lauf der Zeiten gewandelt. Und pse_346.032 wenn wir heute die Dichtung im ganzen nach Lyrik, Epik und pse_346.033 Dramatik gliedern, so ist das eben unsere heutige Sicht auf das pse_346.034 Gesamte des Dichterischen, aus der sich auch neue Einsichten in pse_346.035 die Dichtkunst ergeben. Dabei ist die Dreigliederung selbst pse_346.036 wohl wahrscheinlich aus unserer heutigen Art, die Dinge zu pse_346.037 sehen, durchaus gerechtfertigt. Aber es muß immer damit gerechnet pse_346.038 werden, daß Gattungen aussterben können. Auch die
pse_346.001 Ausdruck Novelle kennt der Engländer nicht, denn ›short pse_346.002 story‹ ist nicht Novelle, der deutsche Ausdruck Kurzgeschichte pse_346.003 ist eine Lehnübersetzung. Alle diese Überschneidungen, pse_346.004 vor allem auch die Tatsache, daß die Einteilung Lyrik — pse_346.005 Epik — Dramatik im Englischen nicht genau wiedergegeben pse_346.006 werden kann, zeigen: Die geistige Gliederung aller Bereiche pse_346.007 der Dichtung ist in den zwei Sprachen verschieden, damit pse_346.008 auch die ordnende Sicht auf alle Gebiete der Dichtung. Die pse_346.009 Engländer sehen in ihrer Poetik aus ihrer Sprache heraus pse_346.010 andere Probleme als die Deutschen. Daraus ergibt sich die pse_346.011 Tatsache, daß die poetischen Erörterungen zunächst immer pse_346.012 auf eine bestimmte Sprachgemeinschaft beschränkt sind. Auch pse_346.013 was in diesem Buch dargestellt wird, geht von der deutschen pse_346.014 Sichtweise aus. Man muß sich also immer bewußt bleiben, daß pse_346.015 die einzelnen Sprachgemeinschaften je in ihrer Weise zu den pse_346.016 Fragen der Dichtung Stellung nehmen. Das mag eine Einseitigkeit pse_346.017 sein; sie kann aber nicht vermieden werden. Zugleich pse_346.018 lernt so der geistig Aufgeschlossene auch die anderen Sichten pse_346.019 kennen, und sie alle runden sich doch zu einem langsam werdenden pse_346.020 Gesamtbild von den Möglichkeiten dichterischer Gestaltung.
pse_346.021
pse_346.022 Eine weitere Ursache für die Verworrenheit ist die Geschichte pse_346.023 der Fachsprache der Poetik. Nur kurz sei gesagt, daß pse_346.024 die heute übliche Scheidung von Lyrik, Epik und Dramatik pse_346.025 nichts Naturgegebenes ist, sondern daß diese Gruppierung in pse_346.026 Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts, in Frankreich erst pse_346.027 in der Mitte des 19. Jahrhunderts üblich wird. Die Geschichte pse_346.028 der Einteilung spiegelt geistige Wandlungen des Abendlandes. pse_346.029 Eine Einheitlichkeit in der Einteilung der Dichtungsgattungen pse_346.030 gab und gibt es nicht, auch der Gehalt der Worte Lyrik, Epik pse_346.031 und Dramatik hat sich im Lauf der Zeiten gewandelt. Und pse_346.032 wenn wir heute die Dichtung im ganzen nach Lyrik, Epik und pse_346.033 Dramatik gliedern, so ist das eben unsere heutige Sicht auf das pse_346.034 Gesamte des Dichterischen, aus der sich auch neue Einsichten in pse_346.035 die Dichtkunst ergeben. Dabei ist die Dreigliederung selbst pse_346.036 wohl wahrscheinlich aus unserer heutigen Art, die Dinge zu pse_346.037 sehen, durchaus gerechtfertigt. Aber es muß immer damit gerechnet pse_346.038 werden, daß Gattungen aussterben können. Auch die
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0362"n="346"/><lbn="pse_346.001"/>
Ausdruck Novelle kennt der Engländer nicht, denn ›short <lbn="pse_346.002"/>
story‹ ist nicht Novelle, der deutsche Ausdruck Kurzgeschichte <lbn="pse_346.003"/>
ist eine Lehnübersetzung. Alle diese Überschneidungen, <lbn="pse_346.004"/>
vor allem auch die Tatsache, daß die Einteilung Lyrik —<lbn="pse_346.005"/>
Epik — Dramatik im Englischen nicht genau wiedergegeben <lbn="pse_346.006"/>
werden kann, zeigen: Die geistige Gliederung aller Bereiche <lbn="pse_346.007"/>
der Dichtung ist in den zwei Sprachen verschieden, damit <lbn="pse_346.008"/>
auch die ordnende Sicht auf alle Gebiete der Dichtung. Die <lbn="pse_346.009"/>
Engländer sehen in ihrer Poetik aus ihrer Sprache heraus <lbn="pse_346.010"/>
andere Probleme als die Deutschen. Daraus ergibt sich die <lbn="pse_346.011"/>
Tatsache, daß die poetischen Erörterungen zunächst immer <lbn="pse_346.012"/>
auf eine bestimmte Sprachgemeinschaft beschränkt sind. Auch <lbn="pse_346.013"/>
was in diesem Buch dargestellt wird, geht von der deutschen <lbn="pse_346.014"/>
Sichtweise aus. Man muß sich also immer bewußt bleiben, daß <lbn="pse_346.015"/>
die einzelnen Sprachgemeinschaften je in ihrer Weise zu den <lbn="pse_346.016"/>
Fragen der Dichtung Stellung nehmen. Das mag eine Einseitigkeit <lbn="pse_346.017"/>
sein; sie kann aber nicht vermieden werden. Zugleich <lbn="pse_346.018"/>
lernt so der geistig Aufgeschlossene auch die anderen Sichten <lbn="pse_346.019"/>
kennen, und sie alle runden sich doch zu einem langsam werdenden <lbn="pse_346.020"/>
Gesamtbild von den Möglichkeiten dichterischer Gestaltung.</p><lbn="pse_346.021"/><p><lbn="pse_346.022"/>
Eine weitere Ursache für die Verworrenheit ist die Geschichte <lbn="pse_346.023"/>
der Fachsprache der Poetik. Nur kurz sei gesagt, daß <lbn="pse_346.024"/>
die heute übliche Scheidung von Lyrik, Epik und Dramatik <lbn="pse_346.025"/>
nichts Naturgegebenes ist, sondern daß diese Gruppierung in <lbn="pse_346.026"/>
Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts, in Frankreich erst <lbn="pse_346.027"/>
in der Mitte des 19. Jahrhunderts üblich wird. Die Geschichte <lbn="pse_346.028"/>
der Einteilung spiegelt geistige Wandlungen des Abendlandes. <lbn="pse_346.029"/>
Eine Einheitlichkeit in der Einteilung der Dichtungsgattungen <lbn="pse_346.030"/>
gab und gibt es nicht, auch der Gehalt der Worte Lyrik, Epik <lbn="pse_346.031"/>
und Dramatik hat sich im Lauf der Zeiten gewandelt. Und <lbn="pse_346.032"/>
wenn wir heute die Dichtung im ganzen nach Lyrik, Epik und <lbn="pse_346.033"/>
Dramatik gliedern, so ist das eben unsere heutige Sicht auf das <lbn="pse_346.034"/>
Gesamte des Dichterischen, aus der sich auch neue Einsichten in <lbn="pse_346.035"/>
die Dichtkunst ergeben. Dabei ist die Dreigliederung selbst <lbn="pse_346.036"/>
wohl wahrscheinlich aus unserer heutigen Art, die Dinge zu <lbn="pse_346.037"/>
sehen, durchaus gerechtfertigt. Aber es muß immer damit gerechnet <lbn="pse_346.038"/>
werden, daß Gattungen aussterben können. Auch die
</p></div></div></div></body></text></TEI>
[346/0362]
pse_346.001
Ausdruck Novelle kennt der Engländer nicht, denn ›short pse_346.002
story‹ ist nicht Novelle, der deutsche Ausdruck Kurzgeschichte pse_346.003
ist eine Lehnübersetzung. Alle diese Überschneidungen, pse_346.004
vor allem auch die Tatsache, daß die Einteilung Lyrik — pse_346.005
Epik — Dramatik im Englischen nicht genau wiedergegeben pse_346.006
werden kann, zeigen: Die geistige Gliederung aller Bereiche pse_346.007
der Dichtung ist in den zwei Sprachen verschieden, damit pse_346.008
auch die ordnende Sicht auf alle Gebiete der Dichtung. Die pse_346.009
Engländer sehen in ihrer Poetik aus ihrer Sprache heraus pse_346.010
andere Probleme als die Deutschen. Daraus ergibt sich die pse_346.011
Tatsache, daß die poetischen Erörterungen zunächst immer pse_346.012
auf eine bestimmte Sprachgemeinschaft beschränkt sind. Auch pse_346.013
was in diesem Buch dargestellt wird, geht von der deutschen pse_346.014
Sichtweise aus. Man muß sich also immer bewußt bleiben, daß pse_346.015
die einzelnen Sprachgemeinschaften je in ihrer Weise zu den pse_346.016
Fragen der Dichtung Stellung nehmen. Das mag eine Einseitigkeit pse_346.017
sein; sie kann aber nicht vermieden werden. Zugleich pse_346.018
lernt so der geistig Aufgeschlossene auch die anderen Sichten pse_346.019
kennen, und sie alle runden sich doch zu einem langsam werdenden pse_346.020
Gesamtbild von den Möglichkeiten dichterischer Gestaltung.
pse_346.021
pse_346.022
Eine weitere Ursache für die Verworrenheit ist die Geschichte pse_346.023
der Fachsprache der Poetik. Nur kurz sei gesagt, daß pse_346.024
die heute übliche Scheidung von Lyrik, Epik und Dramatik pse_346.025
nichts Naturgegebenes ist, sondern daß diese Gruppierung in pse_346.026
Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts, in Frankreich erst pse_346.027
in der Mitte des 19. Jahrhunderts üblich wird. Die Geschichte pse_346.028
der Einteilung spiegelt geistige Wandlungen des Abendlandes. pse_346.029
Eine Einheitlichkeit in der Einteilung der Dichtungsgattungen pse_346.030
gab und gibt es nicht, auch der Gehalt der Worte Lyrik, Epik pse_346.031
und Dramatik hat sich im Lauf der Zeiten gewandelt. Und pse_346.032
wenn wir heute die Dichtung im ganzen nach Lyrik, Epik und pse_346.033
Dramatik gliedern, so ist das eben unsere heutige Sicht auf das pse_346.034
Gesamte des Dichterischen, aus der sich auch neue Einsichten in pse_346.035
die Dichtkunst ergeben. Dabei ist die Dreigliederung selbst pse_346.036
wohl wahrscheinlich aus unserer heutigen Art, die Dinge zu pse_346.037
sehen, durchaus gerechtfertigt. Aber es muß immer damit gerechnet pse_346.038
werden, daß Gattungen aussterben können. Auch die
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 346. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/362>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.