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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Stärke (Ich-Form) wird hier sprachkünstlerisch dauergeprägt pse_358.002
und gewinnt Leben für sich: wo das war, wann das pse_358.003
war, mit wem es geschehen ist, das bleibt alles außerhalb, nur pse_358.004
daß ein Mensch von einem Zauber ganz bestimmter Art erfaßt pse_358.005
wurde, geht zugleich mit dem Zauber ins Gebilde ein. pse_358.006
Jedes lyrische Erlebnisgedicht geht so auf dem Weg zur Verwesentlichung pse_358.007
über die Einmaligkeit ins allgemein Menschliche pse_358.008
hinaus, ohne diesen Zauber, daß ein Mensch so etwas pse_358.009
einmal erlebt haben kann, aufzugeben, auszuschalten; aber pse_358.010
er ist im Höheren aufgehoben. Da liegt der große Unterschied pse_358.011
zu einer sachdarstellerischen Beschreibung und Darlegung pse_358.012
eines Erlebnisses.

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2. Man kann bestimmte Bereiche der Erfahrungswelt zu pse_358.014
einem geordneten Gefüge von Begriffen zusammenfassen. pse_358.015
Auch das geschieht durch die Sprache, aber in sachdarstellerischer pse_358.016
Haltung. Das ist die wissenschaftliche Betrachtung und pse_358.017
Ordnung eines Stückes der Welt. Zweck der sprachlichen pse_358.018
Darstellung ist, diese Ordnung mitzuteilen, zu festigen und pse_358.019
aufzubewahren. Nun besteht aber die Möglichkeit, daß dafür pse_358.020
dichterische Mittel eingesetzt werden. Freilich drängen hier pse_358.021
außerdichterische Maßstäbe herein, man beurteilt dieses pse_358.022
sprachkünstlerische Gebilde dann auch nach Begriffen, nicht pse_358.023
nach ästhetischen Grundsätzen. Doch kann es sein, daß in pse_358.024
einer solchen sprachkünstlerischen Formung, in den sprachlichen pse_358.025
Bildern und Vergleichen, in den sich bildenden Symbolen, pse_358.026
im dynamischen Ablauf und in den Lautungswerten pse_358.027
erst die Ordnung des Erlebten erwächst. Es wird also in pse_358.028
solchem Fall das Aufbauen und Zusammenfügen einer Ordnung, pse_358.029
die aus der außerrsprachlichen Wirklichkeit gespeist wird, im pse_358.030
Sprachgebilde selber Wirklichkeit.

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Werdend betrachte sie nun, wie nach und nach sich die Pflanze, pse_358.032
Stufenweise geführt, bildet zu Blüten und Frucht. pse_358.033
Aus dem Samen entwickelt sie sich, sobald ihn der Erde pse_358.034
Stille befruchtender Schoß hold in das Leben entläßt pse_358.035
Und dem Reize des Lichts, des heiligen, ewig bewegten, pse_358.036
Gleich den zärtesten Bau keimender Blätter empfiehlt. pse_358.037
Einfach schlief in dem Samen die Kraft; ein beginnendes Vorbild pse_358.038
Lag, verschlossen in sich, unter die Hülle gebeugt, pse_358.039
Blatt und Wurzel und Keim, nur halb geformet und farblos;

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Stärke (Ich-Form) wird hier sprachkünstlerisch dauergeprägt pse_358.002
und gewinnt Leben für sich: wo das war, wann das pse_358.003
war, mit wem es geschehen ist, das bleibt alles außerhalb, nur pse_358.004
daß ein Mensch von einem Zauber ganz bestimmter Art erfaßt pse_358.005
wurde, geht zugleich mit dem Zauber ins Gebilde ein. pse_358.006
Jedes lyrische Erlebnisgedicht geht so auf dem Weg zur Verwesentlichung pse_358.007
über die Einmaligkeit ins allgemein Menschliche pse_358.008
hinaus, ohne diesen Zauber, daß ein Mensch so etwas pse_358.009
einmal erlebt haben kann, aufzugeben, auszuschalten; aber pse_358.010
er ist im Höheren aufgehoben. Da liegt der große Unterschied pse_358.011
zu einer sachdarstellerischen Beschreibung und Darlegung pse_358.012
eines Erlebnisses.

pse_358.013
2. Man kann bestimmte Bereiche der Erfahrungswelt zu pse_358.014
einem geordneten Gefüge von Begriffen zusammenfassen. pse_358.015
Auch das geschieht durch die Sprache, aber in sachdarstellerischer pse_358.016
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Ordnung eines Stückes der Welt. Zweck der sprachlichen pse_358.018
Darstellung ist, diese Ordnung mitzuteilen, zu festigen und pse_358.019
aufzubewahren. Nun besteht aber die Möglichkeit, daß dafür pse_358.020
dichterische Mittel eingesetzt werden. Freilich drängen hier pse_358.021
außerdichterische Maßstäbe herein, man beurteilt dieses pse_358.022
sprachkünstlerische Gebilde dann auch nach Begriffen, nicht pse_358.023
nach ästhetischen Grundsätzen. Doch kann es sein, daß in pse_358.024
einer solchen sprachkünstlerischen Formung, in den sprachlichen pse_358.025
Bildern und Vergleichen, in den sich bildenden Symbolen, pse_358.026
im dynamischen Ablauf und in den Lautungswerten pse_358.027
erst die Ordnung des Erlebten erwächst. Es wird also in pse_358.028
solchem Fall das Aufbauen und Zusammenfügen einer Ordnung, pse_358.029
die aus der außerrsprachlichen Wirklichkeit gespeist wird, im pse_358.030
Sprachgebilde selber Wirklichkeit.

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Werdend betrachte sie nun, wie nach und nach sich die Pflanze, pse_358.032
Stufenweise geführt, bildet zu Blüten und Frucht. pse_358.033
Aus dem Samen entwickelt sie sich, sobald ihn der Erde pse_358.034
Stille befruchtender Schoß hold in das Leben entläßt pse_358.035
Und dem Reize des Lichts, des heiligen, ewig bewegten, pse_358.036
Gleich den zärtesten Bau keimender Blätter empfiehlt. pse_358.037
Einfach schlief in dem Samen die Kraft; ein beginnendes Vorbild pse_358.038
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[358/0374] pse_358.001 Stärke (Ich-Form) wird hier sprachkünstlerisch dauergeprägt pse_358.002 und gewinnt Leben für sich: wo das war, wann das pse_358.003 war, mit wem es geschehen ist, das bleibt alles außerhalb, nur pse_358.004 daß ein Mensch von einem Zauber ganz bestimmter Art erfaßt pse_358.005 wurde, geht zugleich mit dem Zauber ins Gebilde ein. pse_358.006 Jedes lyrische Erlebnisgedicht geht so auf dem Weg zur Verwesentlichung pse_358.007 über die Einmaligkeit ins allgemein Menschliche pse_358.008 hinaus, ohne diesen Zauber, daß ein Mensch so etwas pse_358.009 einmal erlebt haben kann, aufzugeben, auszuschalten; aber pse_358.010 er ist im Höheren aufgehoben. Da liegt der große Unterschied pse_358.011 zu einer sachdarstellerischen Beschreibung und Darlegung pse_358.012 eines Erlebnisses. pse_358.013 2. Man kann bestimmte Bereiche der Erfahrungswelt zu pse_358.014 einem geordneten Gefüge von Begriffen zusammenfassen. pse_358.015 Auch das geschieht durch die Sprache, aber in sachdarstellerischer pse_358.016 Haltung. Das ist die wissenschaftliche Betrachtung und pse_358.017 Ordnung eines Stückes der Welt. Zweck der sprachlichen pse_358.018 Darstellung ist, diese Ordnung mitzuteilen, zu festigen und pse_358.019 aufzubewahren. Nun besteht aber die Möglichkeit, daß dafür pse_358.020 dichterische Mittel eingesetzt werden. Freilich drängen hier pse_358.021 außerdichterische Maßstäbe herein, man beurteilt dieses pse_358.022 sprachkünstlerische Gebilde dann auch nach Begriffen, nicht pse_358.023 nach ästhetischen Grundsätzen. Doch kann es sein, daß in pse_358.024 einer solchen sprachkünstlerischen Formung, in den sprachlichen pse_358.025 Bildern und Vergleichen, in den sich bildenden Symbolen, pse_358.026 im dynamischen Ablauf und in den Lautungswerten pse_358.027 erst die Ordnung des Erlebten erwächst. Es wird also in pse_358.028 solchem Fall das Aufbauen und Zusammenfügen einer Ordnung, pse_358.029 die aus der außerrsprachlichen Wirklichkeit gespeist wird, im pse_358.030 Sprachgebilde selber Wirklichkeit. pse_358.031 Werdend betrachte sie nun, wie nach und nach sich die Pflanze, pse_358.032 Stufenweise geführt, bildet zu Blüten und Frucht. pse_358.033 Aus dem Samen entwickelt sie sich, sobald ihn der Erde pse_358.034 Stille befruchtender Schoß hold in das Leben entläßt pse_358.035 Und dem Reize des Lichts, des heiligen, ewig bewegten, pse_358.036 Gleich den zärtesten Bau keimender Blätter empfiehlt. pse_358.037 Einfach schlief in dem Samen die Kraft; ein beginnendes Vorbild pse_358.038 Lag, verschlossen in sich, unter die Hülle gebeugt, pse_358.039 Blatt und Wurzel und Keim, nur halb geformet und farblos;

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 358. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/374>, abgerufen am 22.11.2024.