pse_359.001 Trocken erhält so der Kern ruhiges Leben bewahrt,pse_359.002 Quillet strebend empor, sich milder Feuchte vertrauend,pse_359.003 Und erhebt sich sogleich aus der umgebenden Nacht.
pse_359.004 (Goethe, Metamorphose der Pflanzen)
pse_359.005
Gewiß sind hier erzählerische und lyrische Elemente enthalten. pse_359.006 Aber im Gesamten erwächst hier eben doch eine pse_359.007 Ordnung, und zwar rein in sprachkünstlerischer Prägung.
pse_359.008 3. Eine weitere Möglichkeit, in der Dichtung eine Wirklichkeit pse_359.009 aufzubauen, führt über die bisher betrachteten hinaus. pse_359.010 Bei der ersten wird das persönliche Erlebnis an einer erfahrenen pse_359.011 Wirklichkeit mit in die dichterische Gestaltung als wesentlich pse_359.012 hineingenommen, bei der zweiten die Ordnung einer pse_359.013 außersprachlichen Wirklichkeit sprachkünstlerisches Ereignis. pse_359.014 Nun kann aber der Dichter durch die Darstellung von Personen, pse_359.015 die er schafft, von kausalen Zusammenhängen, durch pse_359.016 Ereignisfolgen und ihre Verflochtenheit einen Vorgang gestalten,pse_359.017 der nun ganz für sich allein besteht, der zwar in seinen pse_359.018 Elementen noch den Bezug zu unserer Welt um uns deutlich pse_359.019 macht, aber ein unmittelbares menschliches Ergriffensein wie pse_359.020 in der Lyrik nicht mehr kennt. Hier stellt der Dichter nun pse_359.021 wirklich eine Welt rein sprachlich dar, und zwar als Vorgang. pse_359.022 Der Unterschied freilich zur ersten Art darf nicht überspannt pse_359.023 werden. Denn der Übergang von der dichterischen Gestaltung pse_359.024 eines persönlichen Ergriffenwerdens zur Formung eines pse_359.025 Vorgangs rein innerhalb des Sprachraums ist unmerklich. Die pse_359.026 früher gebrachten Eichendorff-Verse könnten durchaus auch pse_359.027 die Einführung in die Erzählung eines Vorgangs sein, wobei pse_359.028 eben das Ergriffensein des erzählenden Menschen mit eingeformt pse_359.029 würde. Man hat Dichtung, die einen Vorgang gestaltet, pse_359.030 der rein für sich aus den Kräften der Sprache lebt und pse_359.031 aus dem das Dabeisein eines erzählenden Menschen ausgeschaltet pse_359.032 bleibt, neuerdings nach angloamerikanischem Vorbild pse_359.033 Fiktion genannt. Das heißt also "Erfindung". Im Englischen pse_359.034 ist das unbedenklich, weil "fiction" schon lange diesen pse_359.035 Gehalt -- dichterische Vorgangsgestaltung -- in sich ausgeformt pse_359.036 hat. Aber in der deutschen Sprache bezeichnet der Ausdruck pse_359.037 "Fiktion", besonders auch in der philosophischen Fachsprache, pse_359.038 immer noch "bloße Annahme", "bloße Einbildung". Es
pse_359.001 Trocken erhält so der Kern ruhiges Leben bewahrt,pse_359.002 Quillet strebend empor, sich milder Feuchte vertrauend,pse_359.003 Und erhebt sich sogleich aus der umgebenden Nacht.
pse_359.004 (Goethe, Metamorphose der Pflanzen)
pse_359.005
Gewiß sind hier erzählerische und lyrische Elemente enthalten. pse_359.006 Aber im Gesamten erwächst hier eben doch eine pse_359.007 Ordnung, und zwar rein in sprachkünstlerischer Prägung.
pse_359.008 3. Eine weitere Möglichkeit, in der Dichtung eine Wirklichkeit pse_359.009 aufzubauen, führt über die bisher betrachteten hinaus. pse_359.010 Bei der ersten wird das persönliche Erlebnis an einer erfahrenen pse_359.011 Wirklichkeit mit in die dichterische Gestaltung als wesentlich pse_359.012 hineingenommen, bei der zweiten die Ordnung einer pse_359.013 außersprachlichen Wirklichkeit sprachkünstlerisches Ereignis. pse_359.014 Nun kann aber der Dichter durch die Darstellung von Personen, pse_359.015 die er schafft, von kausalen Zusammenhängen, durch pse_359.016 Ereignisfolgen und ihre Verflochtenheit einen Vorgang gestalten,pse_359.017 der nun ganz für sich allein besteht, der zwar in seinen pse_359.018 Elementen noch den Bezug zu unserer Welt um uns deutlich pse_359.019 macht, aber ein unmittelbares menschliches Ergriffensein wie pse_359.020 in der Lyrik nicht mehr kennt. Hier stellt der Dichter nun pse_359.021 wirklich eine Welt rein sprachlich dar, und zwar als Vorgang. pse_359.022 Der Unterschied freilich zur ersten Art darf nicht überspannt pse_359.023 werden. Denn der Übergang von der dichterischen Gestaltung pse_359.024 eines persönlichen Ergriffenwerdens zur Formung eines pse_359.025 Vorgangs rein innerhalb des Sprachraums ist unmerklich. Die pse_359.026 früher gebrachten Eichendorff-Verse könnten durchaus auch pse_359.027 die Einführung in die Erzählung eines Vorgangs sein, wobei pse_359.028 eben das Ergriffensein des erzählenden Menschen mit eingeformt pse_359.029 würde. Man hat Dichtung, die einen Vorgang gestaltet, pse_359.030 der rein für sich aus den Kräften der Sprache lebt und pse_359.031 aus dem das Dabeisein eines erzählenden Menschen ausgeschaltet pse_359.032 bleibt, neuerdings nach angloamerikanischem Vorbild pse_359.033 Fiktion genannt. Das heißt also »Erfindung«. Im Englischen pse_359.034 ist das unbedenklich, weil »fiction« schon lange diesen pse_359.035 Gehalt — dichterische Vorgangsgestaltung — in sich ausgeformt pse_359.036 hat. Aber in der deutschen Sprache bezeichnet der Ausdruck pse_359.037 »Fiktion«, besonders auch in der philosophischen Fachsprache, pse_359.038 immer noch »bloße Annahme«, »bloße Einbildung«. Es
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Trocken erhält so der Kern ruhiges Leben bewahrt, pse_359.002
Quillet strebend empor, sich milder Feuchte vertrauend, pse_359.003
Und erhebt sich sogleich aus der umgebenden Nacht.
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(Goethe, Metamorphose der Pflanzen)
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Gewiß sind hier erzählerische und lyrische Elemente enthalten. pse_359.006
Aber im Gesamten erwächst hier eben doch eine pse_359.007
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3. Eine weitere Möglichkeit, in der Dichtung eine Wirklichkeit pse_359.009
aufzubauen, führt über die bisher betrachteten hinaus. pse_359.010
Bei der ersten wird das persönliche Erlebnis an einer erfahrenen pse_359.011
Wirklichkeit mit in die dichterische Gestaltung als wesentlich pse_359.012
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außersprachlichen Wirklichkeit sprachkünstlerisches Ereignis. pse_359.014
Nun kann aber der Dichter durch die Darstellung von Personen, pse_359.015
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in der Lyrik nicht mehr kennt. Hier stellt der Dichter nun pse_359.021
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Der Unterschied freilich zur ersten Art darf nicht überspannt pse_359.023
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 359. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/375>, abgerufen am 21.11.2024.
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