Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_024.001
oder von einem landwirtschaftlichen im Gegensatz zu einem pse_024.002
technischen usw. Das alles wird dauerhaft geprägt in den pse_024.003
Worten. Man nennt diese sprachliche Aufgliederung eines pse_024.004
Erfahrungsbereichs die Feldgliederung. Sie kann sehr verschieden pse_024.005
sein und offenbart in dieser Verschiedenheit eben pse_024.006
eine Verschiedenheit des Welterfassens, wir können nun pse_024.007
schon sagen: des Weltbildes. Eigenartig ist hier die Aufgliederung pse_024.008
der Farbeindrücke. Im Mittelalter erfaßte man am pse_024.009
Regenbogen nur die Farben rot, gelb und grün, während man pse_024.010
heute üblicherweise am Spektrum rot, orange, gelb, grün, pse_024.011
hellblau, dunkelblau und violett, also "die sieben" Farben pse_024.012
unterscheidet. Das heißt also, der Erfahrungsbereich des pse_024.013
Regenbogens wurde früher anders aufgeteilt als heute. Wo pse_024.014
aber bleiben die Farben rosa, lila und braun in dieser Aufgliederung? pse_024.015
Und auch die einzelnen Sprachgemeinschaften pse_024.016
gliedern anders. Was für die eine schon gelb ist, kann für die pse_024.017
andere noch orange sein usw. Die Griechen kannten ein Farbwort, pse_024.018
das unübersetzbar ist. Die Engländer gliedern den pse_024.019
Bereich des deutschen "braun" in drei Farben auf: hazel, pse_024.020
auburn, bay neben brown. Natürlich kann man das zur Not pse_024.021
übersetzen; aber wenn ich hazel mit rötlich-braun wiedergebe, pse_024.022
so ist der Gehalt doch ganz anders als das englische pse_024.023
hazel, weil im deutschen Wort sowohl das rötlich als das pse_024.024
braun mitklingt, nicht aber der Haselbusch usw. Für das pse_024.025
deutsche "rosa" hat der Engländer rose und pink. Oder: den pse_024.026
Bereich "Fleisch" gliedert der Franzose und Engländer in pse_024.027
lebendes und totes (als Speise) auf: englisch flesh neben meat, pse_024.028
französisch chair neben viande. Ganz eigenartig gliedert der pse_024.029
Römer Blut auf: sanguis ist in den Adern, cruor ist das ausfließende pse_024.030
Blut. Umgekehrt gliedert sich das englische to pse_024.031
grind in drei Verba auf: schleifen, mahlen, knirschen, das pse_024.032
französische gazouiller in rieseln und zwitschern. Aber es pse_024.033
kommt auch vor, daß bestimmte Bereiche, die in einer pse_024.034
Sprache gestaltet und aufgegliedert werden, also im Weltbild pse_024.035
dieser Sprachgemeinschaft eine Rolle spielen oder einfach da pse_024.036
sind, in einer anderen Sprache gar nicht da sind, d. h. von pse_024.037
dieser Sprachgemeinschaft gar nicht erfaßt werden. Sie sind pse_024.038
für sie nicht lebensnotwendig. Man spricht von blinden

pse_024.001
oder von einem landwirtschaftlichen im Gegensatz zu einem pse_024.002
technischen usw. Das alles wird dauerhaft geprägt in den pse_024.003
Worten. Man nennt diese sprachliche Aufgliederung eines pse_024.004
Erfahrungsbereichs die Feldgliederung. Sie kann sehr verschieden pse_024.005
sein und offenbart in dieser Verschiedenheit eben pse_024.006
eine Verschiedenheit des Welterfassens, wir können nun pse_024.007
schon sagen: des Weltbildes. Eigenartig ist hier die Aufgliederung pse_024.008
der Farbeindrücke. Im Mittelalter erfaßte man am pse_024.009
Regenbogen nur die Farben rot, gelb und grün, während man pse_024.010
heute üblicherweise am Spektrum rot, orange, gelb, grün, pse_024.011
hellblau, dunkelblau und violett, also »die sieben« Farben pse_024.012
unterscheidet. Das heißt also, der Erfahrungsbereich des pse_024.013
Regenbogens wurde früher anders aufgeteilt als heute. Wo pse_024.014
aber bleiben die Farben rosa, lila und braun in dieser Aufgliederung? pse_024.015
Und auch die einzelnen Sprachgemeinschaften pse_024.016
gliedern anders. Was für die eine schon gelb ist, kann für die pse_024.017
andere noch orange sein usw. Die Griechen kannten ein Farbwort, pse_024.018
das unübersetzbar ist. Die Engländer gliedern den pse_024.019
Bereich des deutschen »braun« in drei Farben auf: hazel, pse_024.020
auburn, bay neben brown. Natürlich kann man das zur Not pse_024.021
übersetzen; aber wenn ich hazel mit rötlich-braun wiedergebe, pse_024.022
so ist der Gehalt doch ganz anders als das englische pse_024.023
hazel, weil im deutschen Wort sowohl das rötlich als das pse_024.024
braun mitklingt, nicht aber der Haselbusch usw. Für das pse_024.025
deutsche »rosa« hat der Engländer rose und pink. Oder: den pse_024.026
Bereich »Fleisch« gliedert der Franzose und Engländer in pse_024.027
lebendes und totes (als Speise) auf: englisch flesh neben meat, pse_024.028
französisch chair neben viande. Ganz eigenartig gliedert der pse_024.029
Römer Blut auf: sanguis ist in den Adern, cruor ist das ausfließende pse_024.030
Blut. Umgekehrt gliedert sich das englische to pse_024.031
grind in drei Verba auf: schleifen, mahlen, knirschen, das pse_024.032
französische gazouiller in rieseln und zwitschern. Aber es pse_024.033
kommt auch vor, daß bestimmte Bereiche, die in einer pse_024.034
Sprache gestaltet und aufgegliedert werden, also im Weltbild pse_024.035
dieser Sprachgemeinschaft eine Rolle spielen oder einfach da pse_024.036
sind, in einer anderen Sprache gar nicht da sind, d. h. von pse_024.037
dieser Sprachgemeinschaft gar nicht erfaßt werden. Sie sind pse_024.038
für sie nicht lebensnotwendig. Man spricht von blinden

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0040" n="24"/><lb n="pse_024.001"/>
oder von einem landwirtschaftlichen im Gegensatz zu einem <lb n="pse_024.002"/>
technischen usw. Das alles wird dauerhaft geprägt in den <lb n="pse_024.003"/>
Worten. Man nennt diese sprachliche Aufgliederung eines <lb n="pse_024.004"/>
Erfahrungsbereichs die Feldgliederung. Sie kann sehr verschieden <lb n="pse_024.005"/>
sein und offenbart in dieser Verschiedenheit eben <lb n="pse_024.006"/>
eine Verschiedenheit des Welterfassens, wir können nun <lb n="pse_024.007"/>
schon sagen: des Weltbildes. Eigenartig ist hier die Aufgliederung <lb n="pse_024.008"/>
der Farbeindrücke. Im Mittelalter erfaßte man am <lb n="pse_024.009"/>
Regenbogen nur die Farben rot, gelb und grün, während man <lb n="pse_024.010"/>
heute üblicherweise am Spektrum rot, orange, gelb, grün, <lb n="pse_024.011"/>
hellblau, dunkelblau und violett, also »die sieben« Farben <lb n="pse_024.012"/>
unterscheidet. Das heißt also, der Erfahrungsbereich des <lb n="pse_024.013"/>
Regenbogens wurde früher anders aufgeteilt als heute. Wo <lb n="pse_024.014"/>
aber bleiben die Farben rosa, lila und braun in dieser Aufgliederung? <lb n="pse_024.015"/>
Und auch die einzelnen Sprachgemeinschaften <lb n="pse_024.016"/>
gliedern anders. Was für die eine schon gelb ist, kann für die <lb n="pse_024.017"/>
andere noch orange sein usw. Die Griechen kannten ein Farbwort, <lb n="pse_024.018"/>
das unübersetzbar ist. Die Engländer gliedern den <lb n="pse_024.019"/>
Bereich des deutschen »braun« in drei Farben auf: hazel, <lb n="pse_024.020"/>
auburn, bay neben brown. Natürlich kann man das zur Not <lb n="pse_024.021"/>
übersetzen; aber wenn ich hazel mit rötlich-braun wiedergebe, <lb n="pse_024.022"/>
so ist der Gehalt doch ganz anders als das englische <lb n="pse_024.023"/>
hazel, weil im deutschen Wort sowohl das rötlich als das <lb n="pse_024.024"/>
braun mitklingt, nicht aber der Haselbusch usw. Für das <lb n="pse_024.025"/>
deutsche »rosa« hat der Engländer rose und pink. Oder: den <lb n="pse_024.026"/>
Bereich »Fleisch« gliedert der Franzose und Engländer in <lb n="pse_024.027"/>
lebendes und totes (als Speise) auf: englisch flesh neben meat, <lb n="pse_024.028"/>
französisch chair neben viande. Ganz eigenartig gliedert der <lb n="pse_024.029"/>
Römer Blut auf: sanguis ist in den Adern, cruor ist das ausfließende <lb n="pse_024.030"/>
Blut. Umgekehrt gliedert sich das englische to <lb n="pse_024.031"/>
grind in drei Verba auf: schleifen, mahlen, knirschen, das <lb n="pse_024.032"/>
französische gazouiller in rieseln und zwitschern. Aber es <lb n="pse_024.033"/>
kommt auch vor, daß bestimmte Bereiche, die in einer <lb n="pse_024.034"/>
Sprache gestaltet und aufgegliedert werden, also im Weltbild <lb n="pse_024.035"/>
dieser Sprachgemeinschaft eine Rolle spielen oder einfach da <lb n="pse_024.036"/>
sind, in einer anderen Sprache gar nicht da sind, d. h. von <lb n="pse_024.037"/>
dieser Sprachgemeinschaft gar nicht erfaßt werden. Sie sind <lb n="pse_024.038"/>
für sie nicht lebensnotwendig. Man spricht von blinden
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[24/0040] pse_024.001 oder von einem landwirtschaftlichen im Gegensatz zu einem pse_024.002 technischen usw. Das alles wird dauerhaft geprägt in den pse_024.003 Worten. Man nennt diese sprachliche Aufgliederung eines pse_024.004 Erfahrungsbereichs die Feldgliederung. Sie kann sehr verschieden pse_024.005 sein und offenbart in dieser Verschiedenheit eben pse_024.006 eine Verschiedenheit des Welterfassens, wir können nun pse_024.007 schon sagen: des Weltbildes. Eigenartig ist hier die Aufgliederung pse_024.008 der Farbeindrücke. Im Mittelalter erfaßte man am pse_024.009 Regenbogen nur die Farben rot, gelb und grün, während man pse_024.010 heute üblicherweise am Spektrum rot, orange, gelb, grün, pse_024.011 hellblau, dunkelblau und violett, also »die sieben« Farben pse_024.012 unterscheidet. Das heißt also, der Erfahrungsbereich des pse_024.013 Regenbogens wurde früher anders aufgeteilt als heute. Wo pse_024.014 aber bleiben die Farben rosa, lila und braun in dieser Aufgliederung? pse_024.015 Und auch die einzelnen Sprachgemeinschaften pse_024.016 gliedern anders. Was für die eine schon gelb ist, kann für die pse_024.017 andere noch orange sein usw. Die Griechen kannten ein Farbwort, pse_024.018 das unübersetzbar ist. Die Engländer gliedern den pse_024.019 Bereich des deutschen »braun« in drei Farben auf: hazel, pse_024.020 auburn, bay neben brown. Natürlich kann man das zur Not pse_024.021 übersetzen; aber wenn ich hazel mit rötlich-braun wiedergebe, pse_024.022 so ist der Gehalt doch ganz anders als das englische pse_024.023 hazel, weil im deutschen Wort sowohl das rötlich als das pse_024.024 braun mitklingt, nicht aber der Haselbusch usw. Für das pse_024.025 deutsche »rosa« hat der Engländer rose und pink. Oder: den pse_024.026 Bereich »Fleisch« gliedert der Franzose und Engländer in pse_024.027 lebendes und totes (als Speise) auf: englisch flesh neben meat, pse_024.028 französisch chair neben viande. Ganz eigenartig gliedert der pse_024.029 Römer Blut auf: sanguis ist in den Adern, cruor ist das ausfließende pse_024.030 Blut. Umgekehrt gliedert sich das englische to pse_024.031 grind in drei Verba auf: schleifen, mahlen, knirschen, das pse_024.032 französische gazouiller in rieseln und zwitschern. Aber es pse_024.033 kommt auch vor, daß bestimmte Bereiche, die in einer pse_024.034 Sprache gestaltet und aufgegliedert werden, also im Weltbild pse_024.035 dieser Sprachgemeinschaft eine Rolle spielen oder einfach da pse_024.036 sind, in einer anderen Sprache gar nicht da sind, d. h. von pse_024.037 dieser Sprachgemeinschaft gar nicht erfaßt werden. Sie sind pse_024.038 für sie nicht lebensnotwendig. Man spricht von blinden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/40
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/40>, abgerufen am 03.12.2024.