Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite
pse_425.001
Die Welle sprüht, und staut zurück und weichet, pse_425.002
Und schwillt bergan, sich immer selbst zu trinken; pse_425.003
Gehemmt ist nun zum Vater hin das Streben.
pse_425.004
Sie schwankt und ruht, zum See zurückgedeichet; pse_425.005
Gestirne, spiegelnd sich, beschaun das Blinken pse_425.006
Des Wellenschlags am Fels, ein neues Leben.
pse_425.007

Hier wird die traditionelle Sonettenform streng beachtet: Die pse_425.008
ersten zwei Strophen gestalten das Strömen, die Fortbewegung, pse_425.009
die letzten das Anstauen zum See, also eine Gegenbewegung. pse_425.010
Zugleich hat Goethe auch die Gefahr zu stark angespannter pse_425.011
Gedanklichkeit vermieden, einmal dadurch, daß pse_425.012
schon gegen Ende der zweiten Strophe der Übergang zur pse_425.013
Gegenbewegung eingeleitet wird, vor allem aber durch eindrucksvolle pse_425.014
Bilder, die die Innerlichkeit des Sprechenden pse_425.015
stark herausheben und damit echte Lyrik schaffen. Wir haben pse_425.016
schon früher auf eine andere Bauweise des Sonetts hingewiesen, pse_425.017
die vor allem in der englischen Form, aber auch vielfach pse_425.018
im deutschen Barocksonett deutlich ist: fugenartige Durchführung pse_425.019
in den ersten drei Strophen und krönende Zusammenfassung pse_425.020
in der letzten. Auch das ist noch immer ein pse_425.021
strenger, rundender Bau. Es kommt aber auch vor, daß ein pse_425.022
Sonnett in einer Bewegung durchkomponiert und weder der pse_425.023
krönende Abschluß noch die Antithese der ersten zu den pse_425.024
letzten Strophen beobachtet ist. Tritt dazu noch eine freie, pse_425.025
gegenüber der Norm geänderte Reimfolge und eine Abweichung pse_425.026
vom üblichen jambischen Fünftakter, so ist die pse_425.027
eigentliche Sonettenform durchbrochen, denn nur mehr die pse_425.028
Zahl der Strophen und Verse ist beibehalten. Das kommt pse_425.029
in den "Sonetten an Orpheus" von Rilke vor. Zum Beispiel:

pse_425.030
Atmen, du unsichtbares Gedicht! pse_425.031
Immerfort um das eigne pse_425.032
Sein rein eingetauschter Weltraum. Gegengewicht, pse_425.033
in dem ich mich rhythmisch ereigne.
pse_425.034
Einzige Welle, deren pse_425.035
allmähliches Meer ich bin; pse_425.036
sparsamstes du von allen möglichen Meeren, -- pse_425.037
Raumgewinn.
pse_425.038
Wie viele von diesen Stellen der Räume waren schon pse_425.039
innen an mir. Manche Winde pse_425.040
sind wie mein Sohn.
pse_425.001
Die Welle sprüht, und staut zurück und weichet, pse_425.002
Und schwillt bergan, sich immer selbst zu trinken; pse_425.003
Gehemmt ist nun zum Vater hin das Streben.
pse_425.004
Sie schwankt und ruht, zum See zurückgedeichet; pse_425.005
Gestirne, spiegelnd sich, beschaun das Blinken pse_425.006
Des Wellenschlags am Fels, ein neues Leben.
pse_425.007

Hier wird die traditionelle Sonettenform streng beachtet: Die pse_425.008
ersten zwei Strophen gestalten das Strömen, die Fortbewegung, pse_425.009
die letzten das Anstauen zum See, also eine Gegenbewegung. pse_425.010
Zugleich hat Goethe auch die Gefahr zu stark angespannter pse_425.011
Gedanklichkeit vermieden, einmal dadurch, daß pse_425.012
schon gegen Ende der zweiten Strophe der Übergang zur pse_425.013
Gegenbewegung eingeleitet wird, vor allem aber durch eindrucksvolle pse_425.014
Bilder, die die Innerlichkeit des Sprechenden pse_425.015
stark herausheben und damit echte Lyrik schaffen. Wir haben pse_425.016
schon früher auf eine andere Bauweise des Sonetts hingewiesen, pse_425.017
die vor allem in der englischen Form, aber auch vielfach pse_425.018
im deutschen Barocksonett deutlich ist: fugenartige Durchführung pse_425.019
in den ersten drei Strophen und krönende Zusammenfassung pse_425.020
in der letzten. Auch das ist noch immer ein pse_425.021
strenger, rundender Bau. Es kommt aber auch vor, daß ein pse_425.022
Sonnett in einer Bewegung durchkomponiert und weder der pse_425.023
krönende Abschluß noch die Antithese der ersten zu den pse_425.024
letzten Strophen beobachtet ist. Tritt dazu noch eine freie, pse_425.025
gegenüber der Norm geänderte Reimfolge und eine Abweichung pse_425.026
vom üblichen jambischen Fünftakter, so ist die pse_425.027
eigentliche Sonettenform durchbrochen, denn nur mehr die pse_425.028
Zahl der Strophen und Verse ist beibehalten. Das kommt pse_425.029
in den »Sonetten an Orpheus« von Rilke vor. Zum Beispiel:

pse_425.030
Atmen, du unsichtbares Gedicht! pse_425.031
Immerfort um das eigne pse_425.032
Sein rein eingetauschter Weltraum. Gegengewicht, pse_425.033
in dem ich mich rhythmisch ereigne.
pse_425.034
Einzige Welle, deren pse_425.035
allmähliches Meer ich bin; pse_425.036
sparsamstes du von allen möglichen Meeren, — pse_425.037
Raumgewinn.
pse_425.038
Wie viele von diesen Stellen der Räume waren schon pse_425.039
innen an mir. Manche Winde pse_425.040
sind wie mein Sohn.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0441" n="425"/>
            <lb n="pse_425.001"/>
            <lg>
              <l> <hi rendition="#aq">Die Welle sprüht, und staut zurück und weichet,</hi> </l>
              <lb n="pse_425.002"/>
              <l> <hi rendition="#aq">Und schwillt bergan, sich immer selbst zu trinken;</hi> </l>
              <lb n="pse_425.003"/>
              <l> <hi rendition="#aq">Gehemmt ist nun zum Vater hin das Streben. </hi> </l>
            </lg>
            <lg>
              <lb n="pse_425.004"/>
              <l> <hi rendition="#aq">Sie schwankt und ruht, zum See zurückgedeichet;</hi> </l>
              <lb n="pse_425.005"/>
              <l> <hi rendition="#aq">Gestirne, spiegelnd sich, beschaun das Blinken</hi> </l>
              <lb n="pse_425.006"/>
              <l> <hi rendition="#aq">Des Wellenschlags am Fels, ein neues Leben.</hi> </l>
            </lg>
            <lb n="pse_425.007"/>
            <p>Hier wird die traditionelle Sonettenform streng beachtet: Die <lb n="pse_425.008"/>
ersten zwei Strophen gestalten das Strömen, die Fortbewegung, <lb n="pse_425.009"/>
die letzten das Anstauen zum See, also eine Gegenbewegung. <lb n="pse_425.010"/>
Zugleich hat Goethe auch die Gefahr zu stark angespannter <lb n="pse_425.011"/>
Gedanklichkeit vermieden, einmal dadurch, daß <lb n="pse_425.012"/>
schon gegen Ende der zweiten Strophe der Übergang zur <lb n="pse_425.013"/>
Gegenbewegung eingeleitet wird, vor allem aber durch eindrucksvolle <lb n="pse_425.014"/>
Bilder, die die Innerlichkeit des Sprechenden <lb n="pse_425.015"/>
stark herausheben und damit echte Lyrik schaffen. Wir haben <lb n="pse_425.016"/>
schon früher auf eine andere Bauweise des Sonetts hingewiesen, <lb n="pse_425.017"/>
die vor allem in der englischen Form, aber auch vielfach <lb n="pse_425.018"/>
im deutschen Barocksonett deutlich ist: fugenartige Durchführung <lb n="pse_425.019"/>
in den ersten drei Strophen und krönende Zusammenfassung <lb n="pse_425.020"/>
in der letzten. Auch das ist noch immer ein <lb n="pse_425.021"/>
strenger, rundender Bau. Es kommt aber auch vor, daß ein <lb n="pse_425.022"/>
Sonnett in einer Bewegung durchkomponiert und weder der <lb n="pse_425.023"/>
krönende Abschluß noch die Antithese der ersten zu den <lb n="pse_425.024"/>
letzten Strophen beobachtet ist. Tritt dazu noch eine freie, <lb n="pse_425.025"/>
gegenüber der Norm geänderte Reimfolge und eine Abweichung <lb n="pse_425.026"/>
vom üblichen jambischen Fünftakter, so ist die <lb n="pse_425.027"/>
eigentliche Sonettenform durchbrochen, denn nur mehr die <lb n="pse_425.028"/>
Zahl der Strophen und Verse ist beibehalten. Das kommt <lb n="pse_425.029"/>
in den »Sonetten an Orpheus« von Rilke vor. Zum Beispiel:</p>
            <lb n="pse_425.030"/>
            <lg>
              <l> <hi rendition="#aq">Atmen, du unsichtbares Gedicht!</hi> </l>
              <lb n="pse_425.031"/>
              <l> <hi rendition="#aq">Immerfort um das eigne</hi> </l>
              <lb n="pse_425.032"/>
              <l> <hi rendition="#aq">Sein rein eingetauschter Weltraum. Gegengewicht,</hi> </l>
              <lb n="pse_425.033"/>
              <l> <hi rendition="#aq">in dem ich mich rhythmisch ereigne. </hi> </l>
            </lg>
            <lg>
              <lb n="pse_425.034"/>
              <l> <hi rendition="#aq">Einzige Welle, deren</hi> </l>
              <lb n="pse_425.035"/>
              <l> <hi rendition="#aq">allmähliches Meer ich bin;</hi> </l>
              <lb n="pse_425.036"/>
              <l> <hi rendition="#aq">sparsamstes du von allen möglichen Meeren, &#x2014;</hi> </l>
              <lb n="pse_425.037"/>
              <l> <hi rendition="#aq">Raumgewinn. </hi> </l>
            </lg>
            <lg>
              <lb n="pse_425.038"/>
              <l> <hi rendition="#aq">Wie viele von diesen Stellen der Räume waren schon</hi> </l>
              <lb n="pse_425.039"/>
              <l> <hi rendition="#aq">innen an mir. Manche Winde</hi> </l>
              <lb n="pse_425.040"/>
              <l> <hi rendition="#aq">sind wie mein Sohn.</hi> </l>
            </lg>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[425/0441] pse_425.001 Die Welle sprüht, und staut zurück und weichet, pse_425.002 Und schwillt bergan, sich immer selbst zu trinken; pse_425.003 Gehemmt ist nun zum Vater hin das Streben. pse_425.004 Sie schwankt und ruht, zum See zurückgedeichet; pse_425.005 Gestirne, spiegelnd sich, beschaun das Blinken pse_425.006 Des Wellenschlags am Fels, ein neues Leben. pse_425.007 Hier wird die traditionelle Sonettenform streng beachtet: Die pse_425.008 ersten zwei Strophen gestalten das Strömen, die Fortbewegung, pse_425.009 die letzten das Anstauen zum See, also eine Gegenbewegung. pse_425.010 Zugleich hat Goethe auch die Gefahr zu stark angespannter pse_425.011 Gedanklichkeit vermieden, einmal dadurch, daß pse_425.012 schon gegen Ende der zweiten Strophe der Übergang zur pse_425.013 Gegenbewegung eingeleitet wird, vor allem aber durch eindrucksvolle pse_425.014 Bilder, die die Innerlichkeit des Sprechenden pse_425.015 stark herausheben und damit echte Lyrik schaffen. Wir haben pse_425.016 schon früher auf eine andere Bauweise des Sonetts hingewiesen, pse_425.017 die vor allem in der englischen Form, aber auch vielfach pse_425.018 im deutschen Barocksonett deutlich ist: fugenartige Durchführung pse_425.019 in den ersten drei Strophen und krönende Zusammenfassung pse_425.020 in der letzten. Auch das ist noch immer ein pse_425.021 strenger, rundender Bau. Es kommt aber auch vor, daß ein pse_425.022 Sonnett in einer Bewegung durchkomponiert und weder der pse_425.023 krönende Abschluß noch die Antithese der ersten zu den pse_425.024 letzten Strophen beobachtet ist. Tritt dazu noch eine freie, pse_425.025 gegenüber der Norm geänderte Reimfolge und eine Abweichung pse_425.026 vom üblichen jambischen Fünftakter, so ist die pse_425.027 eigentliche Sonettenform durchbrochen, denn nur mehr die pse_425.028 Zahl der Strophen und Verse ist beibehalten. Das kommt pse_425.029 in den »Sonetten an Orpheus« von Rilke vor. Zum Beispiel: pse_425.030 Atmen, du unsichtbares Gedicht! pse_425.031 Immerfort um das eigne pse_425.032 Sein rein eingetauschter Weltraum. Gegengewicht, pse_425.033 in dem ich mich rhythmisch ereigne. pse_425.034 Einzige Welle, deren pse_425.035 allmähliches Meer ich bin; pse_425.036 sparsamstes du von allen möglichen Meeren, — pse_425.037 Raumgewinn. pse_425.038 Wie viele von diesen Stellen der Räume waren schon pse_425.039 innen an mir. Manche Winde pse_425.040 sind wie mein Sohn.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/441
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 425. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/441>, abgerufen am 22.11.2024.