pse_447.001 Gebilde, die in sich und aus sich wirken. Dann fallen vor pse_447.002 allem Worte mit starker Einprägungskraft auf, hier tatsächlich pse_447.003 auch solche, die deutlich Gesichtsvorstellungen wecken, pse_447.004 zugleich mit ihnen aber auch ins Innere hineinwirken: türmen pse_447.005 z. B. Vor allem aber die drei Eindruckswörter des vorletzten pse_447.006 Verses in ihrer dichten Aufeinanderfolge, noch dazu im pse_447.007 Komparativ; die folgende Verbindung des "in" mit dem Akkusativ pse_447.008 schafft hier deutlich das Bild der Richtung, damit pse_447.009 einer Bewegung. Ihr steht nun der letzte Vers entgegen: dem pse_447.010 "ausgedehnt" das "verwachsen", das hier besonders das Zusammengezogene pse_447.011 herausformt, das "vorher" in die Vergangenheit pse_447.012 zurückweisend; der Bewegung im Ausdruck "in pse_447.013 Spitzen und Teile" wirkt das "ruhten im untern Organ" pse_447.014 kräftig entgegen: in den Wortgehalten, im Vokalklang, im pse_447.015 Dativausdruck. Dazu tritt noch der Anruf "du siehst's", der das pse_447.016 Ganze sofort aus dem Bereich nüchterner Sachdarstellung pse_447.017 heraushebt, da mit allem immer -- die Anrufe wiederholen pse_447.018 sich häufig -- ein Mensch mitgestaltet ist.
pse_447.019 Aber es soll ja nicht bloß sprachkünstlerisch wertvolle Darstellung pse_447.020 sein, sondern Dichtung. Die sprachkünstlerischen pse_447.021 Grundlagen sind in diesem Gedicht Goethes deutlich. Nun pse_447.022 aber kommt das Entscheidende: schafft der Dichter hier in der pse_447.023 Sprachkunst eine Eigenwelt, die ganz im Sprachlichen ruht pse_447.024 und nicht auf etwas Außersprachliches hinweist? Hier liegt pse_447.025 eine der brennenden Fragen der Lehrdichtung. An den eben pse_447.026 gebrachten Versen kann man erleben, daß wirklich im Sprachraum pse_447.027 eine Welt geschaffen wird, die ganz im Sprachlichen pse_447.028 verhaftet ist. In den zitierten Versen wachsen Blätter auf wie pse_447.029 in einem anderen epischen oder lyrischen Gedicht, wo der pse_447.030 Dichter im Sprachlichen eine Landschaft, ein Naturbild erzeugt. pse_447.031 Es tritt uns so unmittelbar in der Sprache gegenüber, pse_447.032 daß wir gar nicht daran denken, das außerhalb der Sprache pse_447.033 gemeinte Bild zu suchen. Es gibt dort keines, das uns nötig pse_447.034 wäre, es lebt in der Sprache, und zwar ganz wesenhaft. Der pse_447.035 Dichter betrachtet, zeigt und ordnet eine Welt, die er ganz pse_447.036 mit den Kräften der Sprache geschaffen hat, die in ihnen ruht. pse_447.037 Je mehr es einem Lehrgedicht gelingt, eine solche dichterisch pse_447.038 begründete Eigenwelt zu schaffen, desto höher der Wert einer
pse_447.001 Gebilde, die in sich und aus sich wirken. Dann fallen vor pse_447.002 allem Worte mit starker Einprägungskraft auf, hier tatsächlich pse_447.003 auch solche, die deutlich Gesichtsvorstellungen wecken, pse_447.004 zugleich mit ihnen aber auch ins Innere hineinwirken: türmen pse_447.005 z. B. Vor allem aber die drei Eindruckswörter des vorletzten pse_447.006 Verses in ihrer dichten Aufeinanderfolge, noch dazu im pse_447.007 Komparativ; die folgende Verbindung des »in« mit dem Akkusativ pse_447.008 schafft hier deutlich das Bild der Richtung, damit pse_447.009 einer Bewegung. Ihr steht nun der letzte Vers entgegen: dem pse_447.010 »ausgedehnt« das »verwachsen«, das hier besonders das Zusammengezogene pse_447.011 herausformt, das »vorher« in die Vergangenheit pse_447.012 zurückweisend; der Bewegung im Ausdruck »in pse_447.013 Spitzen und Teile« wirkt das »ruhten im untern Organ« pse_447.014 kräftig entgegen: in den Wortgehalten, im Vokalklang, im pse_447.015 Dativausdruck. Dazu tritt noch der Anruf »du siehst's«, der das pse_447.016 Ganze sofort aus dem Bereich nüchterner Sachdarstellung pse_447.017 heraushebt, da mit allem immer — die Anrufe wiederholen pse_447.018 sich häufig — ein Mensch mitgestaltet ist.
pse_447.019 Aber es soll ja nicht bloß sprachkünstlerisch wertvolle Darstellung pse_447.020 sein, sondern Dichtung. Die sprachkünstlerischen pse_447.021 Grundlagen sind in diesem Gedicht Goethes deutlich. Nun pse_447.022 aber kommt das Entscheidende: schafft der Dichter hier in der pse_447.023 Sprachkunst eine Eigenwelt, die ganz im Sprachlichen ruht pse_447.024 und nicht auf etwas Außersprachliches hinweist? Hier liegt pse_447.025 eine der brennenden Fragen der Lehrdichtung. An den eben pse_447.026 gebrachten Versen kann man erleben, daß wirklich im Sprachraum pse_447.027 eine Welt geschaffen wird, die ganz im Sprachlichen pse_447.028 verhaftet ist. In den zitierten Versen wachsen Blätter auf wie pse_447.029 in einem anderen epischen oder lyrischen Gedicht, wo der pse_447.030 Dichter im Sprachlichen eine Landschaft, ein Naturbild erzeugt. pse_447.031 Es tritt uns so unmittelbar in der Sprache gegenüber, pse_447.032 daß wir gar nicht daran denken, das außerhalb der Sprache pse_447.033 gemeinte Bild zu suchen. Es gibt dort keines, das uns nötig pse_447.034 wäre, es lebt in der Sprache, und zwar ganz wesenhaft. Der pse_447.035 Dichter betrachtet, zeigt und ordnet eine Welt, die er ganz pse_447.036 mit den Kräften der Sprache geschaffen hat, die in ihnen ruht. pse_447.037 Je mehr es einem Lehrgedicht gelingt, eine solche dichterisch pse_447.038 begründete Eigenwelt zu schaffen, desto höher der Wert einer
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0463"n="447"/><lbn="pse_447.001"/>
Gebilde, die in sich und aus sich wirken. Dann fallen vor <lbn="pse_447.002"/>
allem Worte mit starker Einprägungskraft auf, hier tatsächlich <lbn="pse_447.003"/>
auch solche, die deutlich Gesichtsvorstellungen wecken, <lbn="pse_447.004"/>
zugleich mit ihnen aber auch ins Innere hineinwirken: türmen <lbn="pse_447.005"/>
z. B. Vor allem aber die drei Eindruckswörter des vorletzten <lbn="pse_447.006"/>
Verses in ihrer dichten Aufeinanderfolge, noch dazu im <lbn="pse_447.007"/>
Komparativ; die folgende Verbindung des »in« mit dem Akkusativ <lbn="pse_447.008"/>
schafft hier deutlich das Bild der Richtung, damit <lbn="pse_447.009"/>
einer Bewegung. Ihr steht nun der letzte Vers entgegen: dem <lbn="pse_447.010"/>
»ausgedehnt« das »verwachsen«, das hier besonders das Zusammengezogene <lbn="pse_447.011"/>
herausformt, das »vorher« in die Vergangenheit <lbn="pse_447.012"/>
zurückweisend; der Bewegung im Ausdruck »in <lbn="pse_447.013"/>
Spitzen und Teile« wirkt das »ruhten im untern Organ« <lbn="pse_447.014"/>
kräftig entgegen: in den Wortgehalten, im Vokalklang, im <lbn="pse_447.015"/>
Dativausdruck. Dazu tritt noch der Anruf »du siehst's«, der das <lbn="pse_447.016"/>
Ganze sofort aus dem Bereich nüchterner Sachdarstellung <lbn="pse_447.017"/>
heraushebt, da mit allem immer — die Anrufe wiederholen <lbn="pse_447.018"/>
sich häufig — ein Mensch mitgestaltet ist.</p><p><lbn="pse_447.019"/>
Aber es soll ja nicht bloß sprachkünstlerisch wertvolle Darstellung <lbn="pse_447.020"/>
sein, sondern Dichtung. Die sprachkünstlerischen <lbn="pse_447.021"/>
Grundlagen sind in diesem Gedicht Goethes deutlich. Nun <lbn="pse_447.022"/>
aber kommt das Entscheidende: schafft der Dichter hier in der <lbn="pse_447.023"/>
Sprachkunst eine Eigenwelt, die ganz im Sprachlichen ruht <lbn="pse_447.024"/>
und nicht auf etwas Außersprachliches hinweist? Hier liegt <lbn="pse_447.025"/>
eine der brennenden Fragen der Lehrdichtung. An den eben <lbn="pse_447.026"/>
gebrachten Versen kann man erleben, daß wirklich im Sprachraum <lbn="pse_447.027"/>
eine Welt geschaffen wird, die ganz im Sprachlichen <lbn="pse_447.028"/>
verhaftet ist. In den zitierten Versen wachsen Blätter auf wie <lbn="pse_447.029"/>
in einem anderen epischen oder lyrischen Gedicht, wo der <lbn="pse_447.030"/>
Dichter im Sprachlichen eine Landschaft, ein Naturbild erzeugt. <lbn="pse_447.031"/>
Es tritt uns so unmittelbar in der Sprache gegenüber, <lbn="pse_447.032"/>
daß wir gar nicht daran denken, das außerhalb der Sprache <lbn="pse_447.033"/>
gemeinte Bild zu suchen. Es gibt dort keines, das uns nötig <lbn="pse_447.034"/>
wäre, es lebt in der Sprache, und zwar ganz wesenhaft. Der <lbn="pse_447.035"/>
Dichter betrachtet, zeigt und ordnet eine Welt, die er ganz <lbn="pse_447.036"/>
mit den Kräften der Sprache geschaffen hat, die in ihnen ruht. <lbn="pse_447.037"/>
Je mehr es einem Lehrgedicht gelingt, eine solche dichterisch <lbn="pse_447.038"/>
begründete Eigenwelt zu schaffen, desto höher der Wert einer
</p></div></div></div></body></text></TEI>
[447/0463]
pse_447.001
Gebilde, die in sich und aus sich wirken. Dann fallen vor pse_447.002
allem Worte mit starker Einprägungskraft auf, hier tatsächlich pse_447.003
auch solche, die deutlich Gesichtsvorstellungen wecken, pse_447.004
zugleich mit ihnen aber auch ins Innere hineinwirken: türmen pse_447.005
z. B. Vor allem aber die drei Eindruckswörter des vorletzten pse_447.006
Verses in ihrer dichten Aufeinanderfolge, noch dazu im pse_447.007
Komparativ; die folgende Verbindung des »in« mit dem Akkusativ pse_447.008
schafft hier deutlich das Bild der Richtung, damit pse_447.009
einer Bewegung. Ihr steht nun der letzte Vers entgegen: dem pse_447.010
»ausgedehnt« das »verwachsen«, das hier besonders das Zusammengezogene pse_447.011
herausformt, das »vorher« in die Vergangenheit pse_447.012
zurückweisend; der Bewegung im Ausdruck »in pse_447.013
Spitzen und Teile« wirkt das »ruhten im untern Organ« pse_447.014
kräftig entgegen: in den Wortgehalten, im Vokalklang, im pse_447.015
Dativausdruck. Dazu tritt noch der Anruf »du siehst's«, der das pse_447.016
Ganze sofort aus dem Bereich nüchterner Sachdarstellung pse_447.017
heraushebt, da mit allem immer — die Anrufe wiederholen pse_447.018
sich häufig — ein Mensch mitgestaltet ist.
pse_447.019
Aber es soll ja nicht bloß sprachkünstlerisch wertvolle Darstellung pse_447.020
sein, sondern Dichtung. Die sprachkünstlerischen pse_447.021
Grundlagen sind in diesem Gedicht Goethes deutlich. Nun pse_447.022
aber kommt das Entscheidende: schafft der Dichter hier in der pse_447.023
Sprachkunst eine Eigenwelt, die ganz im Sprachlichen ruht pse_447.024
und nicht auf etwas Außersprachliches hinweist? Hier liegt pse_447.025
eine der brennenden Fragen der Lehrdichtung. An den eben pse_447.026
gebrachten Versen kann man erleben, daß wirklich im Sprachraum pse_447.027
eine Welt geschaffen wird, die ganz im Sprachlichen pse_447.028
verhaftet ist. In den zitierten Versen wachsen Blätter auf wie pse_447.029
in einem anderen epischen oder lyrischen Gedicht, wo der pse_447.030
Dichter im Sprachlichen eine Landschaft, ein Naturbild erzeugt. pse_447.031
Es tritt uns so unmittelbar in der Sprache gegenüber, pse_447.032
daß wir gar nicht daran denken, das außerhalb der Sprache pse_447.033
gemeinte Bild zu suchen. Es gibt dort keines, das uns nötig pse_447.034
wäre, es lebt in der Sprache, und zwar ganz wesenhaft. Der pse_447.035
Dichter betrachtet, zeigt und ordnet eine Welt, die er ganz pse_447.036
mit den Kräften der Sprache geschaffen hat, die in ihnen ruht. pse_447.037
Je mehr es einem Lehrgedicht gelingt, eine solche dichterisch pse_447.038
begründete Eigenwelt zu schaffen, desto höher der Wert einer
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 447. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/463>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.