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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Im Laufe der geschichtlichen Entwicklung entsteht die Richtung pse_457.002
der Ökonomisierung, in der die Sprache eine Zweckeinrichtung pse_457.003
zur Vermittlung von Gedanken, zur Verständigung pse_457.004
wird. Daneben bewahrt in anderen Sprachgestaltungen pse_457.005
die Sprache ihre Vollkraft, in der alle ihre Möglichkeiten pse_457.006
eingesetzt sind. Wir nannten das eine Sachdarstellung, das pse_457.007
andere Sprachkunst. Genau so entwickelten sich aus der Urform pse_457.008
des Berichtens zwei weitere Formen. Im Sinne des pse_457.009
Ökonomisierungsweges entstand der sachliche Bericht. Er ist pse_457.010
nüchtern, genau, klar, einfach und hat den eindeutigen pse_457.011
Zweck, einem anderen eine genaue Kenntnis von etwas Vorgefallenem pse_457.012
zu vermitteln: "Berichten Sie, was Sie soeben auf der pse_457.013
Straße beobachtet haben." Im Sinne der Sprachkunst die zunächst pse_457.014
noch unbestimmte Vollform des Erzählens: "Erzähl einmal, pse_457.015
wie es war".

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Dieses Erzählen als Kunst kann man in dreifacher Weise pse_457.017
vom sachlichen Bericht abheben:

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1. Das Erzählen geschieht immer in der Form der Sprachkunst, pse_457.019
nicht in der der Sachdarstellung (Einsprengsel von pse_457.020
Sachdarstellung spielen zunächst für uns keine Rolle). Alle pse_457.021
Kräfte der Sprache sind in solchem Erzählen eingesetzt, die pse_457.022
Sprache hat Stil.

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2. Das Ergreifen des Erfahrungsstroms im Erzählen unterscheidet pse_457.024
sich in zweifacher Hinsicht von der Art des Berichts. pse_457.025
Im Bericht werden nur die Züge aus dem Erfahrungsstrom pse_457.026
herausgegriffen, die für die begriffliche Bezugstiftung nötig pse_457.027
sind. Die Abstraktion geschieht hier in rein rationaler Haltung. pse_457.028
Im Erzählen wird ein solches Erfahrungsstück entweder pse_457.029
isolierend in seiner ganzen Fülle erfaßt, oft geradezu in rein pse_457.030
individualisierenden Zügen, oder die Abstraktion geschieht pse_457.031
nicht in rationaler Zwecksetzung, sondern so, daß das Wesen pse_457.032
auch ohne rationale Ordnung erhellt wird. Der Anfang von pse_457.033
Kafkas "Schloß" lautet:

pse_457.034
"Es war spät abends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. pse_457.035
Vom Schloßberg war nichts zu sehen, Nebel und Finsternis umgaben pse_457.036
ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große pse_457.037
Schloß an. Lange stand K. auf der Holzbrücke, die von der Landstraße pse_457.038
zum Dorf führte, und blickte in die scheinbare Leere empor."

pse_457.001
Im Laufe der geschichtlichen Entwicklung entsteht die Richtung pse_457.002
der Ökonomisierung, in der die Sprache eine Zweckeinrichtung pse_457.003
zur Vermittlung von Gedanken, zur Verständigung pse_457.004
wird. Daneben bewahrt in anderen Sprachgestaltungen pse_457.005
die Sprache ihre Vollkraft, in der alle ihre Möglichkeiten pse_457.006
eingesetzt sind. Wir nannten das eine Sachdarstellung, das pse_457.007
andere Sprachkunst. Genau so entwickelten sich aus der Urform pse_457.008
des Berichtens zwei weitere Formen. Im Sinne des pse_457.009
Ökonomisierungsweges entstand der sachliche Bericht. Er ist pse_457.010
nüchtern, genau, klar, einfach und hat den eindeutigen pse_457.011
Zweck, einem anderen eine genaue Kenntnis von etwas Vorgefallenem pse_457.012
zu vermitteln: »Berichten Sie, was Sie soeben auf der pse_457.013
Straße beobachtet haben.« Im Sinne der Sprachkunst die zunächst pse_457.014
noch unbestimmte Vollform des Erzählens: »Erzähl einmal, pse_457.015
wie es war«.

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Dieses Erzählen als Kunst kann man in dreifacher Weise pse_457.017
vom sachlichen Bericht abheben:

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1. Das Erzählen geschieht immer in der Form der Sprachkunst, pse_457.019
nicht in der der Sachdarstellung (Einsprengsel von pse_457.020
Sachdarstellung spielen zunächst für uns keine Rolle). Alle pse_457.021
Kräfte der Sprache sind in solchem Erzählen eingesetzt, die pse_457.022
Sprache hat Stil.

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2. Das Ergreifen des Erfahrungsstroms im Erzählen unterscheidet pse_457.024
sich in zweifacher Hinsicht von der Art des Berichts. pse_457.025
Im Bericht werden nur die Züge aus dem Erfahrungsstrom pse_457.026
herausgegriffen, die für die begriffliche Bezugstiftung nötig pse_457.027
sind. Die Abstraktion geschieht hier in rein rationaler Haltung. pse_457.028
Im Erzählen wird ein solches Erfahrungsstück entweder pse_457.029
isolierend in seiner ganzen Fülle erfaßt, oft geradezu in rein pse_457.030
individualisierenden Zügen, oder die Abstraktion geschieht pse_457.031
nicht in rationaler Zwecksetzung, sondern so, daß das Wesen pse_457.032
auch ohne rationale Ordnung erhellt wird. Der Anfang von pse_457.033
Kafkas »Schloß« lautet:

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»Es war spät abends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. pse_457.035
Vom Schloßberg war nichts zu sehen, Nebel und Finsternis umgaben pse_457.036
ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große pse_457.037
Schloß an. Lange stand K. auf der Holzbrücke, die von der Landstraße pse_457.038
zum Dorf führte, und blickte in die scheinbare Leere empor.«

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[457/0473] pse_457.001 Im Laufe der geschichtlichen Entwicklung entsteht die Richtung pse_457.002 der Ökonomisierung, in der die Sprache eine Zweckeinrichtung pse_457.003 zur Vermittlung von Gedanken, zur Verständigung pse_457.004 wird. Daneben bewahrt in anderen Sprachgestaltungen pse_457.005 die Sprache ihre Vollkraft, in der alle ihre Möglichkeiten pse_457.006 eingesetzt sind. Wir nannten das eine Sachdarstellung, das pse_457.007 andere Sprachkunst. Genau so entwickelten sich aus der Urform pse_457.008 des Berichtens zwei weitere Formen. Im Sinne des pse_457.009 Ökonomisierungsweges entstand der sachliche Bericht. Er ist pse_457.010 nüchtern, genau, klar, einfach und hat den eindeutigen pse_457.011 Zweck, einem anderen eine genaue Kenntnis von etwas Vorgefallenem pse_457.012 zu vermitteln: »Berichten Sie, was Sie soeben auf der pse_457.013 Straße beobachtet haben.« Im Sinne der Sprachkunst die zunächst pse_457.014 noch unbestimmte Vollform des Erzählens: »Erzähl einmal, pse_457.015 wie es war«. pse_457.016 Dieses Erzählen als Kunst kann man in dreifacher Weise pse_457.017 vom sachlichen Bericht abheben: pse_457.018 1. Das Erzählen geschieht immer in der Form der Sprachkunst, pse_457.019 nicht in der der Sachdarstellung (Einsprengsel von pse_457.020 Sachdarstellung spielen zunächst für uns keine Rolle). Alle pse_457.021 Kräfte der Sprache sind in solchem Erzählen eingesetzt, die pse_457.022 Sprache hat Stil. pse_457.023 2. Das Ergreifen des Erfahrungsstroms im Erzählen unterscheidet pse_457.024 sich in zweifacher Hinsicht von der Art des Berichts. pse_457.025 Im Bericht werden nur die Züge aus dem Erfahrungsstrom pse_457.026 herausgegriffen, die für die begriffliche Bezugstiftung nötig pse_457.027 sind. Die Abstraktion geschieht hier in rein rationaler Haltung. pse_457.028 Im Erzählen wird ein solches Erfahrungsstück entweder pse_457.029 isolierend in seiner ganzen Fülle erfaßt, oft geradezu in rein pse_457.030 individualisierenden Zügen, oder die Abstraktion geschieht pse_457.031 nicht in rationaler Zwecksetzung, sondern so, daß das Wesen pse_457.032 auch ohne rationale Ordnung erhellt wird. Der Anfang von pse_457.033 Kafkas »Schloß« lautet: pse_457.034 »Es war spät abends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. pse_457.035 Vom Schloßberg war nichts zu sehen, Nebel und Finsternis umgaben pse_457.036 ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große pse_457.037 Schloß an. Lange stand K. auf der Holzbrücke, die von der Landstraße pse_457.038 zum Dorf führte, und blickte in die scheinbare Leere empor.«

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 457. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/473>, abgerufen am 25.11.2024.