pse_505.001 Auch das epische Werk muß als Dichtung eine Ganzheit pse_505.002 bilden. Diese Ganzheit ist schon durch das Weltbild gegeben, pse_505.003 vor allem aber durch die künstlerische Gestaltung. Hier pse_505.004 ergeben sich allerhand Fragen besonders für die breite Epik pse_505.005 und vor allem für den modernen Roman. Die allgemeinen pse_505.006 Grundlagen für die Ganzheit des dichterischen Werks sind pse_505.007 bereits ausführlich besprochen worden. Die Einzelheiten, soweit pse_505.008 sie die epische Dichtung betreffen, werden besser bei den pse_505.009 einzelnen epischen Arten betrachtet.
pse_505.010 Die epischen Arten
pse_505.011 Ein Blick auf die geschichtliche Entwicklung zeigt eine pse_505.012 Fülle epischer Arten. Wir fassen sie alle unter dem Namen pse_505.013 Epik zusammen, müssen aber daran erinnern, daß das Wort pse_505.014 "episch" auch -- mit Staiger -- eine Grundhaltung des dichterisch pse_505.015 schaffenden Menschen bezeichnet, nämlich das Zuschauen: pse_505.016 vom Ufer der Gegenwart auf den Strom des Vergänglichen. pse_505.017 Die sprachgebundene Tätigkeit, die aller epischen pse_505.018 Dichtung zugrunde liegt, ist das Erzählen als eine Urform pse_505.019 sprachkünstlerischen Schaffens mit den drei notwendigen pse_505.020 Seiten des Erzählers, des Zuhörers und des "erzählten" pse_505.021 Gegenstandes.
pse_505.022 Es ist eine Tatsache, daß sich die epischen Arten in der geschichtlichen pse_505.023 Wirklichkeit entfalten. Man denke an die Wirkung pse_505.024 der homerischen Epen, an die Vorbildhaftigkeit Vergils pse_505.025 im ganzen Mittelalter, an den Weg vom altgermanischen pse_505.026 Heldenlied zum mittelalterlichen Buchepos, an die Entwicklung pse_505.027 der deutschen Ballade seit Bürger und Herder, der europäischen pse_505.028 Novelle seit Boccaccio, an ihre deutsche Sonderform pse_505.029 im 19. Jahrhundert und an die Rückbesinnung auf die pse_505.030 strenge Form im 20. Jahrhundert, endlich an die Geschichte pse_505.031 des Romans, besonders seine Ausbildung im England des pse_505.032 18. Jahrhunderts und an die neuen Versuche des 20. Jahrhunderts.
pse_505.033
pse_505.034 Antriebe zu einer geschichtlichen Entfaltung sind: 1. Die pse_505.035 Polarität zwischen persönlichem Schöpfertum und Tradition.
pse_505.001 Auch das epische Werk muß als Dichtung eine Ganzheit pse_505.002 bilden. Diese Ganzheit ist schon durch das Weltbild gegeben, pse_505.003 vor allem aber durch die künstlerische Gestaltung. Hier pse_505.004 ergeben sich allerhand Fragen besonders für die breite Epik pse_505.005 und vor allem für den modernen Roman. Die allgemeinen pse_505.006 Grundlagen für die Ganzheit des dichterischen Werks sind pse_505.007 bereits ausführlich besprochen worden. Die Einzelheiten, soweit pse_505.008 sie die epische Dichtung betreffen, werden besser bei den pse_505.009 einzelnen epischen Arten betrachtet.
pse_505.010 Die epischen Arten
pse_505.011 Ein Blick auf die geschichtliche Entwicklung zeigt eine pse_505.012 Fülle epischer Arten. Wir fassen sie alle unter dem Namen pse_505.013 Epik zusammen, müssen aber daran erinnern, daß das Wort pse_505.014 »episch« auch — mit Staiger — eine Grundhaltung des dichterisch pse_505.015 schaffenden Menschen bezeichnet, nämlich das Zuschauen: pse_505.016 vom Ufer der Gegenwart auf den Strom des Vergänglichen. pse_505.017 Die sprachgebundene Tätigkeit, die aller epischen pse_505.018 Dichtung zugrunde liegt, ist das Erzählen als eine Urform pse_505.019 sprachkünstlerischen Schaffens mit den drei notwendigen pse_505.020 Seiten des Erzählers, des Zuhörers und des »erzählten« pse_505.021 Gegenstandes.
pse_505.022 Es ist eine Tatsache, daß sich die epischen Arten in der geschichtlichen pse_505.023 Wirklichkeit entfalten. Man denke an die Wirkung pse_505.024 der homerischen Epen, an die Vorbildhaftigkeit Vergils pse_505.025 im ganzen Mittelalter, an den Weg vom altgermanischen pse_505.026 Heldenlied zum mittelalterlichen Buchepos, an die Entwicklung pse_505.027 der deutschen Ballade seit Bürger und Herder, der europäischen pse_505.028 Novelle seit Boccaccio, an ihre deutsche Sonderform pse_505.029 im 19. Jahrhundert und an die Rückbesinnung auf die pse_505.030 strenge Form im 20. Jahrhundert, endlich an die Geschichte pse_505.031 des Romans, besonders seine Ausbildung im England des pse_505.032 18. Jahrhunderts und an die neuen Versuche des 20. Jahrhunderts.
pse_505.033
pse_505.034 Antriebe zu einer geschichtlichen Entfaltung sind: 1. Die pse_505.035 Polarität zwischen persönlichem Schöpfertum und Tradition.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><pbfacs="#f0521"n="505"/><p><lbn="pse_505.001"/>
Auch das epische Werk muß als Dichtung eine Ganzheit <lbn="pse_505.002"/>
bilden. Diese Ganzheit ist schon durch das Weltbild gegeben, <lbn="pse_505.003"/>
vor allem aber durch die künstlerische Gestaltung. Hier <lbn="pse_505.004"/>
ergeben sich allerhand Fragen besonders für die breite Epik <lbn="pse_505.005"/>
und vor allem für den modernen Roman. Die allgemeinen <lbn="pse_505.006"/>
Grundlagen für die Ganzheit des dichterischen Werks sind <lbn="pse_505.007"/>
bereits ausführlich besprochen worden. Die Einzelheiten, soweit <lbn="pse_505.008"/>
sie die epische Dichtung betreffen, werden besser bei den <lbn="pse_505.009"/>
einzelnen epischen Arten betrachtet.</p></div></div><divn="3"><lbn="pse_505.010"/><head><hirendition="#c"><hirendition="#i">Die epischen Arten</hi></hi></head><p><lbn="pse_505.011"/>
Ein Blick auf die geschichtliche Entwicklung zeigt eine <lbn="pse_505.012"/>
Fülle epischer Arten. Wir fassen sie alle unter dem Namen <lbn="pse_505.013"/>
Epik zusammen, müssen aber daran erinnern, daß das Wort <lbn="pse_505.014"/>
»episch« auch — mit Staiger — eine Grundhaltung des dichterisch <lbn="pse_505.015"/>
schaffenden Menschen bezeichnet, nämlich das Zuschauen: <lbn="pse_505.016"/>
vom Ufer der Gegenwart auf den Strom des Vergänglichen. <lbn="pse_505.017"/>
Die sprachgebundene Tätigkeit, die aller epischen <lbn="pse_505.018"/>
Dichtung zugrunde liegt, ist das Erzählen als eine Urform <lbn="pse_505.019"/>
sprachkünstlerischen Schaffens mit den drei notwendigen <lbn="pse_505.020"/>
Seiten des Erzählers, des Zuhörers und des »erzählten« <lbn="pse_505.021"/>
Gegenstandes.</p><p><lbn="pse_505.022"/>
Es ist eine Tatsache, daß sich die epischen Arten in der geschichtlichen <lbn="pse_505.023"/>
Wirklichkeit entfalten. Man denke an die Wirkung <lbn="pse_505.024"/>
der homerischen Epen, an die Vorbildhaftigkeit Vergils <lbn="pse_505.025"/>
im ganzen Mittelalter, an den Weg vom altgermanischen <lbn="pse_505.026"/>
Heldenlied zum mittelalterlichen Buchepos, an die Entwicklung <lbn="pse_505.027"/>
der deutschen Ballade seit Bürger und Herder, der europäischen <lbn="pse_505.028"/>
Novelle seit Boccaccio, an ihre deutsche Sonderform <lbn="pse_505.029"/>
im 19. Jahrhundert und an die Rückbesinnung auf die <lbn="pse_505.030"/>
strenge Form im 20. Jahrhundert, endlich an die Geschichte <lbn="pse_505.031"/>
des Romans, besonders seine Ausbildung im England des <lbn="pse_505.032"/>
18. Jahrhunderts und an die neuen Versuche des 20. Jahrhunderts.</p><lbn="pse_505.033"/><p><lbn="pse_505.034"/>
Antriebe zu einer geschichtlichen Entfaltung sind: 1. Die <lbn="pse_505.035"/>
Polarität zwischen persönlichem Schöpfertum und Tradition.
</p></div></div></div></body></text></TEI>
[505/0521]
pse_505.001
Auch das epische Werk muß als Dichtung eine Ganzheit pse_505.002
bilden. Diese Ganzheit ist schon durch das Weltbild gegeben, pse_505.003
vor allem aber durch die künstlerische Gestaltung. Hier pse_505.004
ergeben sich allerhand Fragen besonders für die breite Epik pse_505.005
und vor allem für den modernen Roman. Die allgemeinen pse_505.006
Grundlagen für die Ganzheit des dichterischen Werks sind pse_505.007
bereits ausführlich besprochen worden. Die Einzelheiten, soweit pse_505.008
sie die epische Dichtung betreffen, werden besser bei den pse_505.009
einzelnen epischen Arten betrachtet.
pse_505.010
Die epischen Arten pse_505.011
Ein Blick auf die geschichtliche Entwicklung zeigt eine pse_505.012
Fülle epischer Arten. Wir fassen sie alle unter dem Namen pse_505.013
Epik zusammen, müssen aber daran erinnern, daß das Wort pse_505.014
»episch« auch — mit Staiger — eine Grundhaltung des dichterisch pse_505.015
schaffenden Menschen bezeichnet, nämlich das Zuschauen: pse_505.016
vom Ufer der Gegenwart auf den Strom des Vergänglichen. pse_505.017
Die sprachgebundene Tätigkeit, die aller epischen pse_505.018
Dichtung zugrunde liegt, ist das Erzählen als eine Urform pse_505.019
sprachkünstlerischen Schaffens mit den drei notwendigen pse_505.020
Seiten des Erzählers, des Zuhörers und des »erzählten« pse_505.021
Gegenstandes.
pse_505.022
Es ist eine Tatsache, daß sich die epischen Arten in der geschichtlichen pse_505.023
Wirklichkeit entfalten. Man denke an die Wirkung pse_505.024
der homerischen Epen, an die Vorbildhaftigkeit Vergils pse_505.025
im ganzen Mittelalter, an den Weg vom altgermanischen pse_505.026
Heldenlied zum mittelalterlichen Buchepos, an die Entwicklung pse_505.027
der deutschen Ballade seit Bürger und Herder, der europäischen pse_505.028
Novelle seit Boccaccio, an ihre deutsche Sonderform pse_505.029
im 19. Jahrhundert und an die Rückbesinnung auf die pse_505.030
strenge Form im 20. Jahrhundert, endlich an die Geschichte pse_505.031
des Romans, besonders seine Ausbildung im England des pse_505.032
18. Jahrhunderts und an die neuen Versuche des 20. Jahrhunderts.
pse_505.033
pse_505.034
Antriebe zu einer geschichtlichen Entfaltung sind: 1. Die pse_505.035
Polarität zwischen persönlichem Schöpfertum und Tradition.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 505. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/521>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.