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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Ausweichen. Die Höhe bildet der Heimatbesuch, der selber pse_514.002
wieder novellistisch aufgebaut ist mit der Schlußsteigerung pse_514.003
im dänischen Badeort. Der Brief an Lisaweta ist der deutliche pse_514.004
Abschluß, der Durchbruch zum Opfer des Künstlerdaseins. pse_514.005
Das sind nur angedeutete Beispiele, die zeigen sollen, daß pse_514.006
nicht die äußere Länge maßgebend ist, sondern die bewußt pse_514.007
geschlossene und einheitliche Gestaltung mit einer Steigerung pse_514.008
zu einer Höhe, in der sich der tiefere Sinn des Ganzen, pse_514.009
das erzählt wird, offenbart.

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Zu der betonten künstlerischen Gestaltung gehört vielfach pse_514.011
der Rahmen. Er ist kein allgemeiner Zug der Novellenkunst, pse_514.012
aber er findet sich sehr häufig. Formen und Funktionen des pse_514.013
Rahmens sind sehr mannigfaltig. Die Formen lassen sich im pse_514.014
allgemeinen auf vier Arten zurückführen: entweder wird nur pse_514.015
eine Art Einführung oder Einstimmung gegeben, so daß mehr pse_514.016
ein stimmungsmäßiger Untergrund entsteht. Oder es wird pse_514.017
um mehrere Novellen ein Rahmen gelegt, wie das am bekanntesten pse_514.018
in Boccaccios "Decamerone" der Fall ist. Oder es erhält pse_514.019
nur eine Novelle einen Rahmen, wie häufig bei C. F. Meyer pse_514.020
oder Th. Storm. Endlich gibt es eine Zwiebeltechnik, wo pse_514.021
mehrere Novellen ineinandergelegt sind und je die äußere pse_514.022
zugleich den Rahmen für die innere bildet. E. T. A. Hoffmanns pse_514.023
"Fräulein von Scuderi" wird von Sebastian den Serapionsbrüdern pse_514.024
erzählt; eingebaut ist der lange Lebensbericht pse_514.025
Olivier Brussons, der an einer Stelle Cardillacs Dasein mit pse_514.026
dessen eigenen Worten einschaltet. Wesentlich ist aber der pse_514.027
Bezug, in dem der Rahmen zu der Binnenerzählung steht. pse_514.028
Handelt es sich nur um eine Novelle, um die ein Rahmen gelegt pse_514.029
ist, so ist der Bezug meist einfach: eine Person, die im pse_514.030
Rahmen vorkommt, erzählt in der Binnennovelle eine Geschichte. pse_514.031
Viel mannigfaltiger ist der Bezug, wenn der Rahmen pse_514.032
mehrere Novellen umfaßt. Man kann da die Möglichkeiten pse_514.033
an der Rahmenkunst G. Kellers geschlossen überblikken. pse_514.034
Es wird nur eine einstimmende Einführung gegeben, pse_514.035
wie Keller das in der Einleitung zu den "Leuten von Seldwyla" pse_514.036
tut: er beschreibt die Stadt und ihre Einwohner und schafft pse_514.037
somit den Lebensraum für die Binnenerzählungen. Es braucht pse_514.038
keinen Abschluß. Der Rahmen selber gibt den Anlaß für die

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Ausweichen. Die Höhe bildet der Heimatbesuch, der selber pse_514.002
wieder novellistisch aufgebaut ist mit der Schlußsteigerung pse_514.003
im dänischen Badeort. Der Brief an Lisaweta ist der deutliche pse_514.004
Abschluß, der Durchbruch zum Opfer des Künstlerdaseins. pse_514.005
Das sind nur angedeutete Beispiele, die zeigen sollen, daß pse_514.006
nicht die äußere Länge maßgebend ist, sondern die bewußt pse_514.007
geschlossene und einheitliche Gestaltung mit einer Steigerung pse_514.008
zu einer Höhe, in der sich der tiefere Sinn des Ganzen, pse_514.009
das erzählt wird, offenbart.

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Zu der betonten künstlerischen Gestaltung gehört vielfach pse_514.011
der Rahmen. Er ist kein allgemeiner Zug der Novellenkunst, pse_514.012
aber er findet sich sehr häufig. Formen und Funktionen des pse_514.013
Rahmens sind sehr mannigfaltig. Die Formen lassen sich im pse_514.014
allgemeinen auf vier Arten zurückführen: entweder wird nur pse_514.015
eine Art Einführung oder Einstimmung gegeben, so daß mehr pse_514.016
ein stimmungsmäßiger Untergrund entsteht. Oder es wird pse_514.017
um mehrere Novellen ein Rahmen gelegt, wie das am bekanntesten pse_514.018
in Boccaccios »Decamerone« der Fall ist. Oder es erhält pse_514.019
nur eine Novelle einen Rahmen, wie häufig bei C. F. Meyer pse_514.020
oder Th. Storm. Endlich gibt es eine Zwiebeltechnik, wo pse_514.021
mehrere Novellen ineinandergelegt sind und je die äußere pse_514.022
zugleich den Rahmen für die innere bildet. E. T. A. Hoffmanns pse_514.023
»Fräulein von Scudéri« wird von Sebastian den Serapionsbrüdern pse_514.024
erzählt; eingebaut ist der lange Lebensbericht pse_514.025
Olivier Brussons, der an einer Stelle Cardillacs Dasein mit pse_514.026
dessen eigenen Worten einschaltet. Wesentlich ist aber der pse_514.027
Bezug, in dem der Rahmen zu der Binnenerzählung steht. pse_514.028
Handelt es sich nur um eine Novelle, um die ein Rahmen gelegt pse_514.029
ist, so ist der Bezug meist einfach: eine Person, die im pse_514.030
Rahmen vorkommt, erzählt in der Binnennovelle eine Geschichte. pse_514.031
Viel mannigfaltiger ist der Bezug, wenn der Rahmen pse_514.032
mehrere Novellen umfaßt. Man kann da die Möglichkeiten pse_514.033
an der Rahmenkunst G. Kellers geschlossen überblikken. pse_514.034
Es wird nur eine einstimmende Einführung gegeben, pse_514.035
wie Keller das in der Einleitung zu den »Leuten von Seldwyla« pse_514.036
tut: er beschreibt die Stadt und ihre Einwohner und schafft pse_514.037
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 514. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/530>, abgerufen am 01.06.2024.